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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Ventilators wirklich aufdringlich. Nein, sagte ich noch einmal, gegen meinen Willen. Auch die Sache mit dem Karussell und dem goldenen Ring habe ich ihm verschwiegen.
    Die Mitarbeiter nahmen es mir übel, daß ich wegen Leas Ekzem – wegen eines Ekzems ! – nicht zu der Konferenz gefahren war, um unsere letzten Forschungsergebnisse vorzustellen. Und vor allem, daß ich abgesagt hatte, ohne Ruth Adamek an meiner Stelle hinzuschicken. ›Könnte es sein, daß du es wieder einmal vergessen hast?‹ fragte sie, und es lag eine Härte in der Stimme, die mir zeigte, daß ich immer mehr an Boden verlor.
    Auch die Universitätsspitze zeigte sich enttäuscht. Doch eine wirkliche Gefahr war damals nicht zu erkennen. Solange ich nicht die silbernen Löffel stahl, konnte man mir nichts anhaben. Und von den verstörenden Geschehnissen, die mich dazu brachten, sie zu stehlen, konnte ich damals noch nichts wissen.«
9
    »LEAS ERSTER ÖFFENTLICHER AUFTRITT fand an dem Tag statt, an dem die Primarschüler der vierten Klasse entlassen wurden. Der Schulleiter, ein griesgrämiger, gefürchteter Mann, hatte sie in sein Büro bitten lassen, die Sekretärin hatte ihr Tee und Biscuits angeboten, und dann hatte er sie gefragt, ob sie an jenem Tag etwas spielen würde. Sie muß so geschmeichelt gewesen sein, daß sie auf der Stelle zusagte. Aufgeregt, wie im Fieber, platzte sie in eine Besprechung in meinem Büro. Ich ging mit ihr im Korridor auf und ab, bis die flackernde Panik sich gelegt hatte. Dann schickte ich sie zu Marie, und als sie nach Hause kam, wußte sie, was sie spielen würde.
    Lampenfieber kannte ich bis dahin kaum. Vor meinen ersten Vorträgen war ich eher aufgedreht als flattrig gewesen, und als ich zum ersten Mal in einem Hörsaal stand, fand ich das räumliche Arrangement, das ich als Student über viele Jahre von der anderen Seite aus erlebt hatte, eher lächerlich als beängstigend. Doch nun, wo es gar nicht um mich ging, sollte ich das Lampenfieber kennenlernen.
    Ich lernte es hassen und fürchten, und ich lernte es auch lieben und vermissen, wenn es vorbei war. Es einte Lea und mich, und es trennte uns auch. Ihre feuchten Hände wurden auch meine feuchten Hände, ihre Zerstreutheit und Fahrigkeit wucherte auch in mich hinein. Es gab Momente, da vibrierten unsere Nerven wie die eines einzigen Wesens. Das durfte auch nicht anders sein; Lea fiel in einen Abgrund an Verlassenheit, wenn sie den Eindruck hatte, daß ich nicht mitfieberte. Und doch bestand sie auch darauf, daß sie es war, die Grund zur Angst hatte, nicht ich. Es war nicht mit Worten, daß sie darauf bestand; wir sprachen kaum über den allgegenwärtigen fiebrigen Wahn, der uns umfing. Aber sie ging sofort wieder aus dem Zimmer, wenn sie mich antraf, wie ich am Balkonfenster eine meiner seltenen Zigaretten rauchte. Sie ist trotz allem noch ein kleines Mädchen, sagte ich mir dann, was erwartest du.
    In solchen Momenten spürte ich die Einsamkeit, die Cécile in mir zurückgelassen hatte. Ich spürte sie wie einen inneren Frost.
    Als Lea am frühen Abend des Konzerts aus dem Bad kam, verschlug es mir den Atem. Das war kein Mädchen von elf Jahren. Das war eine junge Dame, eine Lady, die darauf wartete, daß die Scheinwerfer angingen. Das schlichte schwarze Kleid hatten wir zusammen ausgesucht. Aber wo hatte sie gelernt, sich so zu pudern und zu kämmen? Wo hatte sie den Lippenstift her? Sie genoß meine Verblüffung. Ich machte ein Foto von ihr, das ich in die Brieftasche steckte und nie gegen ein anderes austauschte.
    Warum läßt sich die Zeit nicht anhalten? Warum konnte es nicht bleiben, wie es an jenem schwülen, gewittrigen Abend im Hochsommer war, eine Stunde, bevor mir Lea von den vielen Blicken und den vielen klatschenden Händen weggenommen wurde, entwendet direkt vor meinen Augen, ohne daß ich das geringste dagegen tun konnte?
    Ich habe keine zusammenhängende Erinnerung an den Abend, es ist, als hätte ihn die Heftigkeit der Gefühle in Stücke gerissen und nur verstreute Splitter übriggelassen. Wir nahmen ein Taxi zur Schule, an diesem Abend durfte uns im Verkehr auf keinen Fall etwas zustoßen. Als wir am Bahnhof vorbeikamen, dachte ich: Noch keine drei Jahre ist es her, und jetzt gibt sie ihr erstes Konzert. Ob das auch Leas Gedanke war, weiß ich nicht, aber sie legte ihre Hand in die meine. Sie war feucht und fühlte sich gar nicht wie eine Hand an, die bald mit sicheren Griffen Bach und Mozart spielen würde. Als ich ihren Kopf an der

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