Lea
greifen war: Sie hatte sich verbeugt, als stünde ihr dieser Applaus zu . Als müßte ihr die Welt einfach zujubeln. Das hatte mich gestört, oder besser: verstört, mehr, als ich mir eingestehen mochte. Es war nicht – wie ich zunächst dachte –, weil darin Eitelkeit und Anmaßung gelegen hätten. Nein, es war umgekehrt: In ihrer Haltung, ihren Bewegungen und ihrem Blick kam eine Botschaft zum Ausdruck, von der sie noch nichts wußte und in gewissem Sinne bis zuletzt nie etwas wissen würde: daß man sie mit dem, was sie konnte und was sie sich mit grenzenloser Hingabe erarbeitete, auf keinen Fall allein lassen durfte; daß die anderen ihrem Spiel unter keinen Umständen mit Achtlosigkeit begegnen durften; daß es einer Katastrophe gleichkäme, wenn ihr die Zuhörer die Liebe und Bewunderung entzögen. Im Rückblick weiß ich: Was ich dort auf der Bühne sah und als etwas Unheilvolles spürte, war ein Vorbote, ein Vorbote all der Dramen, die sich in ihr noch ereignen würden, nachdem sie an diesem Abend den ersten Schritt in die Öffentlichkeit getan hatte.
Das zweite Stück war ein Rondo von Mozart. Und da passierte es: Lea spielte eine Schleife zuviel, das Motiv, das am häufigsten vorkommt, schlich sich ein, wo es nicht hingehörte. Es war ein ganz natürlicher Fehler, den niemand bemerkt hätte, wäre da nicht die Klavierbegleitung gewesen, die das von Mozart vorgesehene Orchester ersetzte. Maries und Leas Töne paßten nicht mehr zueinander, es entstanden Dissonanz und rhythmisches Chaos. Marie nahm die Hände von den Tasten und sah zu Lea hinüber, ihre Augen groß und dunkel. War es Bestürzung, die darin lag? Oder Vorwurf? Der Vorwurf, die Perfektion zu verraten, zu der sie Lea zu führen versuchte, Stunde für Stunde, Woche für Woche?
Ich mochte sie nicht, diese Augen. Bis jetzt war mein Blick öfter hinüber zu Marie geglitten, sie gefiel mir, wie sie dasaß in ihrem dunklen, geheimnisvollen Kleid, die schlanken, kraftvollen Hände in den Tasten, das Gesicht voller Konzentration auf das gemeinsame Spiel. Wie so oft stellte ich mir vor, wie es mit ihr wäre, mit ihr ganz allein, in einer Welt ohne Lea – nur um mit einer schneidenden Empfindung des Verrats in die Wirklichkeit zurückzukehren, wo meine kleine große Tochter debütierte, in der Aula einer Schule nur, aber immerhin. Nun aber stießen mich Maries Augen ab, in denen ich eine unsinnige Anklage las, eine Anklage einem elfjährigen Mädchen gegenüber, das sich in einem Musikstück vertan hatte. Oder war es gar keine Anklage? War Marie einfach nur verwirrt und suchte hinter ihrem dunklen Blick nach einer Möglichkeit, in Leas Spiel zurückzufinden? Lea selbst hatte nach einem angstvollen und ratlosen Blick zu Marie mit der überflüssigen Schleife weitergemacht, ja, das ist das treffende Wort: weitergemacht , so wie einer weitermacht, obwohl es keinen Sinn mehr hat – einfach deshalb, weil aufzuhören noch viel schlimmer wäre. In der Nacht dachte ich: Nie, niemals wieder will ich meine Tochter so weitermachen sehen. Stets von neuem dachte ich diesen Gedanken, die ganze Nacht lang, und er kehrte auch später immer wieder, bis zum Ende, und sogar heute überfällt er mich manchmal, ein nutzloser, gespenstischer Gedanke aus verlorener Zeit.
Plötzlich schien Marie zu verstehen, was geschehen war, es gab ein paar zögernde, noch unpassende Töne, und dann war der Gleichklang wiederhergestellt und blieb bis zum Ende. Lea spielte den Rest rein und fehlerlos, aber es lag Mattigkeit in ihren Tönen, als hätte das vorangehende Weitermachen ohne Marie ihre gesamte Kraft aufgebraucht. Vielleicht ist es auch nur Einbildung, wer weiß das schon.
Der Applaus war noch rauschender als nach dem ersten Stück, einige stampften sogar und pfiffen anerkennend. Ich horchte: War es ein angestrengtes, pflichtschuldigst absolviertes Klatschen? War es so stark und nachhaltig, um Lea zu trösten und ihr zu bedeuten: Das macht nichts, du warst trotzdem gut? Oder waren diese kleinen Jungen und Mädchen so natürlich und unbefangen in ihrem Urteil, daß Leas Versehen für sie einfach keinerlei Bedeutung hatte?
Lea verbeugte sich, zögernder und steifer als nach dem ersten Stück, und dann suchte sie meinen Blick. Wie begegnet man dem unsicheren, um Entschuldigung bittenden Blick der elfjährigen Tochter, der ihr erstes öffentliches Mißgeschick zugestoßen ist? Ich legte in den eigenen Blick alles hinein, was ich an Zuversicht, großzügigem Vertrauen und Stolz
Weitere Kostenlose Bücher