Lea
Schulter spürte, dachte ich einen Moment lang, sie wolle umkehren. Es war ein erlösender Gedanke, der im unruhigen Schlaf der kommenden Nacht stets von neuem aufblitzte, begleitet von einem Gefühl der Ohnmacht und Vergeblichkeit.
Das nächste, was ich vor mir sehe, ist, wie Marie Pasteur Lea mit dem Daumen das Kreuz auf die Stirn zeichnete. Ich traute meinen Augen nicht und verlor vollends die Fassung, als sich Lea bekreuzigte. Meine Tochter war nie getauft worden und hatte, soweit ich wußte, nie eine Bibel in der Hand gehabt. Und nun bekreuzigte sie sich, und dazu mit einer Selbstverständlichkeit und Grazie, als habe sie das ihr Leben lang getan. Es hat lange gedauert, bis ich verstand, daß es nicht das war, was es zunächst schien: Maries Versuch, aus Lea eine Katholikin zu machen. Daß es einfach ein Ritual war, das die beiden verband, eine Geste, mit der sie sich einer Zuneigung und Verbundenheit versicherten, die ihnen größer vorkam als sie selbst. Und auch als ich es schließlich begriffen hatte, blieb eine leise Empfindung von Entfremdung und Verrat. An jenem Abend flackerte der Anblick immer wieder in mir auf, bevor er jeweils vom Geschehen auf der Bühne der Aula überdeckt wurde.
Lea stieg die paar Stufen empor, die Hand am Kleid, um nicht über den Saum zu stolpern. In der Mitte der Bühne, ein paar Schritte vom Flügel entfernt, blieb sie stehen und verbeugte sich mehrmals vor dem klatschenden Publikum. Das hatte ich noch nie gesehen, mein Blick hing an ihren anmutigen Bewegungen. Hatte ihr Marie das gezeigt? Oder hatte sie es einfach in sich?
Marie ließ ihr Zeit, es sollte Lea sein, ganz allein sie, die im Rampenlicht stand. Dann ging sie lautlos und unauffällig auf die Bühne und setzte sich an den Flügel. Sie trug ein nachtblaues, hochgeschlossenes Batikkleid, und weil sie auch bei unserer ersten Begegnung Batik getragen hatte, kam es mir einen Augenblick lang vor, als hätten die beiden das Musikzimmer von Maries Wohnung hierher mitgebracht. Es war ein schönes Gefühl, denn es bedeutete, daß Lea auch auf der Bühne bei Marie geborgen war, wie beim Üben in ihrer Wohnung. Doch es war flüchtig, dieses Gefühl, und wurde bald weggewischt von einem anderen: daß sie dort oben trotz Marie ganz allein war mit ihrer Geige und ihrem Können – ein Mädchen, das bei all seinem damenhaften Aussehen und Benehmen gerade mal elf Jahre auf der Welt war, und dem niemand würde helfen können, wenn es ins Straucheln geraten sollte.
Ich habe auf vielen Konferenzen vor vielen Koryphäen gesprochen, und auch bei Schachturnieren saß ich auf einer Bühne und mußte ganz allein für mich einstehen. Doch das war nichts im Vergleich zu der Aufgabe, Leas Einsamkeit dort oben auszuhalten. Besonders in den Sekunden, bevor sie zu spielen begann. Marie schlug den Kammerton an, Lea stimmte nach, eine kleine Pause, dann korrigierte sie die Bogenspannung, noch einmal eine Pause, um die Hand am Kleid abzuwischen, der Blick zu Marie, das Heben des Bogens, und dann endlich begann sie mit der Musik von Bach.
In genau jenem Augenblick fragte ich mich, ob ihr Gedächtnis der Belastung gewachsen wäre. Es gab nichts, auch nicht den kleinsten Anhaltspunkt, der dagegen sprach. Gedächtnis war nie ein Thema gewesen, ich hatte es als das Natürlichste der Welt betrachtet, daß Lea bestimmte Stücke auswendig konnte, es war mir so natürlich erschienen wie meine Fähigkeit, ganze Schachpartien im Kopf zu behalten und blind zu spielen. Woher also der plötzliche Zweifel?
An die Musik erinnere ich mich nicht mehr, die Erinnerung ist tonlos und ganz ausgefüllt von der angstvollen Bewunderung, mit der ich Leas energische Armbewegungen und die sicheren, zupackenden Griffe der Finger verfolgte, die Maries Griffen nachgebildet waren, wie ich sie vom ersten Abend her im Gedächtnis hatte. Ich hatte das alles ja schon tausendmal gesehen, und doch erschien es mir jetzt, da die vielen fremden Blicke darauf fielen, anders, bewunderungswürdiger und rätselhafter als sonst. Es war Lea, meine Tochter, die da spielte!
Rauschender Applaus. Am längsten klatschte der schmächtige Markus Gerber, sein Gesicht glühte, er hatte sich angezogen, als sei er es, der auf die Bühne müsse. Manchmal war Lea huldvoll, manchmal gereizt, wenn er sie zur Schule begleiten wollte. Er tat mir leid, bald würde sie ihn stehenlassen.
Marie blieb am Flügel sitzen, Lea verbeugte sich. Später, als ich wach lag, beschäftigte mich etwas, das schwer zu
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