Lea
auf sie in mir trug. Mit Augen, die zu brennen begannen, forschte ich in ihrem Gesicht: War ihr klar, was geschehen war? Wie wurde sie damit fertig? Bedeuteten die zuckenden Lider, daß sie mit Enttäuschung und Wut über sich kämpfte? Dann kam Marie, stellte sich neben Lea und legte ihr den Arm um die Schulter. Jetzt mochte ich sie wieder.
Lea hatte auswendig gespielt, hatte aber die Noten bei sich. Ganz gegen ihre Gewohnheit legte sie das Heft auf den Küchentisch, als wir nach Hause kamen. Auf dem Heimweg hatte sie kein Wort gesprochen. Ich dachte daran, wie steif sie dagestanden hatte, als ihr Marie zum Abschied übers Haar gefahren war, und so hütete ich mich, sie zu berühren. Das erste Mal erlebte ich meine Tochter in einem Zustand, den ich fürchten lernte: als würde sie bei der leisesten Berührung, und sei es nur eine durch Worte, zerspringen.»
Van Vliet machte eine Pause, in der sein Blick schräg nach unten ging und in einer Art schneidender Leere alle Gegenstände zu durchdringen schien.
»Am Schluß, da zersprang sie dann wirklich, zersprang in tausend Stücke.«
Er trank in großen Schlucken. Ein Rinnsal von Rotwein lief aus dem Mundwinkel und tropfte auf den Hemdkragen. »Ich habe die Noten von Mozarts Rondo auf dem Küchentisch studiert, die ganze Nacht lang. Köchel-Verzeichnis 373. Werde ich nie vergessen, die Zahl; ist wie eingebrannt. Ich fand zwei Stellen, die für den Fehler, die überflüssige Schleife, in Frage kamen. Ich traute mich nicht zu fragen. Ich tat die Noten auf die Kommode im Flur, wo Lea Noten manchmal hinlegte, wenn sie nach Hause kam, um sie später ins Musikzimmer zu bringen. Sie hat sie liegenlassen. Als existierten sie nicht. Schließlich räumte ich sie weg. Es sind die einzigen Noten, die ich wegwarf, als ich in die kleine Wohnung zog.
Das Geschehnis bedeutete einen ersten, haarfeinen Riß in Leas Selbstvertrauen. Es dauerte Wochen, bis wir darüber sprechen konnten. Und da sagte sie es mir: Sie hatte nur mit Mühe dem Impuls widerstehen können, die Geige ins Publikum zu schleudern. Darüber erschrak ich viel mehr als über den Lapsus. War es nicht viel zu gefährlich, was mit meiner Tochter geschah? War der Ehrgeiz, den Marie in ihr entfacht hatte, nicht wie ein Brand, den man nicht mehr löschen konnte?«
10
»WIR NAHMEN DEN NACHTZUG nach Rom. Lea hatte stets staunend vor Zügen mit Schlafwagen gestanden. Daß es Züge mit Betten gab, in die man sich legte, um ganz woanders aufzuwachen – das erschien ihr wie Zauberei. Sie diese Zauberei am eigenen Leib erleben zu lassen, war das einzige Mittel, das mir einfiel, um die Lähmung zu überwinden, in die sie nach dem Fehler im Rondo verfallen war. Die ersten Tage war sie im Bett geblieben und hatte die Vorhänge zugezogen wie eine Schwerkranke. Nicht einmal mit Marie wollte sie sprechen, wenn sie anrief. Der Geigenkasten stand verbannt hinter dem Schrank.
Etwas hatte ich erwartet, aber nichts von solcher Heftigkeit. Sie hatte doch diesen rauschenden Applaus bekommen, auch die Eltern von Caroline hatten lange geklatscht. Der Schulleiter war auf die Bühne gekommen und hatte einen grotesk mißlungenen Handkuß versucht. Doch Leas Gesicht war immer mehr erstarrt und hatte eine maskenhafte Unbeweglichkeit angenommen. Schlaflos starrte ich in die Dunkelheit und versuchte, das Bild dieses leblosen, verbitterten Gesichts zu verscheuchen. In den elf Jahren, die ich dieses Gesicht kannte, war es mir keine Sekunde lang fremd erschienen, und ich hätte nicht für möglich gehalten, daß es einmal so kommen könnte. Als es nun geschah, verlor ich einen Moment lang den Boden unter den Füßen.
Das Gesicht war wieder ganz wie sonst, als wir im Speisewagen beim Frühstück saßen. Und je tiefer wir in den flimmernden italienischen Hochsommer hineinfuhren und uns von den Bauwerken, Plätzen und Wellen gefangennehmen ließen, desto mehr verblaßten die Spuren der Erschöpfung, die das rastlose Üben auf dem Gesicht hinterlassen hatte. Lea wirkte, fand ich, schon ziemlich erwachsen, und es gab anerkennende Pfiffe für ihr Aussehen. Wir sprachen kein einziges Mal über Musik und das Rondo.
Zu Beginn sagte ich ab und zu einen Satz über Marie, doch die Worte blieben ohne Antwort, wie nicht gesprochen. Kamen wir an einem Stand mit Postkarten vorbei, hoffte ich, Lea würde eine für Marie kaufen. Doch nichts geschah.
Es kam vor, daß sie etwas vergaß. Es waren lauter kleine Dinge, bei denen es nichts machte: den Namen unseres
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