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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Fenster, Bostoner Schneeluft, unsichere Empfindungen, jetzt waren die Dinge unumkehrbar geworden. Dösen statt richtiger Schlaf. Dann der Anruf aus der Notaufnahme. Fünf Stunden mit Lilianes blauen Augen über dem Mundschutz. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, daß sie beim Ausgang stand, als ich hinaustrat, ich habe sie nie gefragt. Ich kann durch keine Morgendämmerung gehen, ohne daran zu denken, wie wir zusammen zu ihrer Wohnung gingen, die zu meiner Überraschung nur zwei Straßen von der unseren entfernt war. Wir gingen schweigend, ab und zu ein Blickwechsel, ich hoffte, sie würde sich bei mir einhängen, statt dessen ihr Kinderhüpfen, Bordstein rauf, Bordstein runter, ihr entschuldigendes und herausforderndes Lächeln, ein Zahn unter dem Licht der Laterne etwas heller als die anderen. Als wir auf den Stufen vor ihrem Haus saßen, rückte sie näher und legte den Kopf an meine Schulter. Es konnte geteilte Erschöpfung sein und geteilte Zufriedenheit über den glücklichen Ausgang der Operation. Es konnte auch mehr sein. Unser weißer Atem, der verschmolz. »Ich mache gute Shakes«, sagte sie leise. »Tatsächlich mache ich die besten Shakes der Stadt. Vor allem meine Erdbeershakes sind legendär.« Das geteilte Lachen, das gemeinsame Schütteln der Körper. Im Treppenhaus blieb ich stehen und schloß die Augen, die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten geballt. Ihre Stimme kam von oben: »Sie sind wirklich gut, meine Shakes.«
    Sie hatte etwas von einer streunenden Katze, wie sie da auf dem Sofa saß, die Beine untergeschlagen, das helle Haar gelöst, den riesigen Becher mit dem Strohhalm an den Lippen. Etwas Freies und Unstetes ging von ihr aus, etwas, das so ganz anders war als Joannes Zielstrebigkeit und Tüchtigkeit, die sie später zu einer erfolgreichen Geschäftsfrau machen sollten. Was lag in ihren unerhört konzentrierten blauen Augen? War es Hingabe? Ja, das war das treffende Wort: Hingabe . Aus dieser Hingabe flossen die konzentrierten Bewegungen bei der Arbeit, das Vorausahnen der Dinge, die ich als nächstes brauchen würde, und Hingabe sah ich auch, wenn sich unsere Blicke über dem Mundschutz kreuzten. I cannot be awake, for nothing looks to me as it did before,/Or else I am awake for the first time, and all before has been/a mean sleep. Sie kannte vieles von Walt Whitman auswendig, und ich vergaß Raum und Zeit, als sie ihn damals mit geschlossenen Augen rezitierte, Rauch in der Stimme, Melancholie und, ja, eben Hingabe. Ich habe mich nach dieser Hingabe gesehnt, während es hell wurde hinter den Vorhängen und immer häufiger Trucks auf der nahegelegenen Fernstraße vorbeidonnerten. Mitten in dieser Sehnsucht brach helle Panik in mir aus, ich sah Joannes verklebtes Haar, thank God, it’s over , und ich hörte Leslies Schrei.
    Lilianes Hingabe, ich habe sie gefürchtet, wie man nur sich selbst fürchten kann. Ich spürte, daß sie etwas ganz anderes sein würde als alles, was ich bisher erlebt hatte, mit Susan, Joanne und einigen anderen, flüchtigen Bekanntschaften. Daß ich in ihr versinken und verschwinden würde, um irgendwann wieder aufzuwachen, fern von Joanne und Leslie und, ja, auch fern von mir selbst – oder doch fern von mir, wie ich mich bisher gekannt hatte.
    Nie habe ich so genau gespürt, was das ist: Willenskraft, wie als ich die Augen öffnete, Liliane ansah und sagte: I have to leave, it’s … I just have to . Ihr Blick taumelte, es zuckte um ihren Mund wie bei jemandem, der gewußt hatte, daß er verlieren würde und den es nun, da es feststand, doch zerriß.
    Wir standen im Flur und lehnten unsere Stirn gegen die Stirn des anderen, die Augen geschlossen, die Hände hinter dem Nacken des anderen verschränkt. Es kam mir vor, als blickten wir hinter die Stirn des anderen wie in einen Tunnel von Gedanken, Phantasien und Erwartungen, einen langen Tunnel unserer möglichen unmöglichen Zukunft, wir blickten in den Tunnel, wie wir ihn uns ausmalten, es war der Tunnel des anderen und zugleich unser eigener, die beiden schoben sich ineinander und verschmolzen, wir gingen in dem Tunnel bis weit nach hinten, wo er sich im Ungefähren verlor, unser Atem ging im Gleichklang, die Versuchung der Lippen, wir erlebten, durchschritten, verbrannten unser gemeinsames Leben, das nicht möglich war, weil es für mich nicht möglich war.
    Eine Woche noch wischte mir Liliane bei der Arbeit den Schweiß von der Stirn. Dann, an einem Montag morgen, brachte mir die Sekretärin einen Umschlag,

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