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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Hotels, die Nummer der Buslinie, die Bezeichnung für ein Getränk. Ich dachte mir nichts dabei. Nichts, was haften geblieben wäre. Es war wunderbar heiß, und Bern mit Ruth Adamek war wunderbar weit weg.
    Die Kirche, aus der die Töne kamen, lag an einem kleinen, idyllischen Platz. Die Kirchentür stand offen, draußen auf den Stufen saßen Leute und hörten zu. Lea erkannte das Stück früher als ich: Es war die Musik von Bach, die Marie am Abend der ersten Begegnung gespielt hatte. Es war kein Zucken, das durch ihren Körper ging, eher eine Art Versteifung, ein blitzschneller Aufbau von Anspannung. Sie ließ mich stehen und verschwand in der Kirche.
    Ich setzte mich draußen hin. Meine Gedanken gingen zu dem Moment zurück, in dem ich damals im Vorbeifahren die Messingtafel mit Marie Pasteurs Namen gesehen hatte. Ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen. Das hätte so leicht geschehen können, dachte ich: Ein Auto, das mich abgelenkt hätte, eine blinkende Leuchtreklame, ein auffälliger Passant – und die Tafel hätte sich nicht in mein Gesichtsfeld geschoben. Dann hätte mich Lea jetzt nicht stehenlassen.
    Beim Herauskommen zuckte es in ihrem Gesicht, und als sie neben mir saß, brach es aus ihr hervor: die Angst, Marie enttäuscht zu haben; die Angst, ihre Zuneigung zu verlieren; die Angst vor dem nächsten Auftritt. Ich stand für Marie ein, und langsam verebbten die Tränen. Sie kaufte ein Dutzend Postkarten, wir gingen auf die Suche nach Briefmarken, und noch am selben Abend warf sie drei Karten an Marie in den Kasten. Sie versuchte anzurufen, um die Karten anzukündigen, aber es war niemand zu Hause. Ich buchte für den nächsten Tag einen Flug, und nach der Landung in Zürich rief Lea Marie an. Zu Hause holte sie die Geige hinter dem Schrank hervor und fuhr in die erste Stunde seit drei Wochen. Sie spielte die halbe Nacht. Das Fieber war zurück.«
    Wir standen im Flur des Hotels, vor dem Aufzug. »Gute Nacht«, hatte ich gesagt, und Van Vliet hatte genickt. Die Tür des Aufzugs ging auf. Van Vliet stellte sich vor die Lichtschranke. Ich wartete, während er nach Worten suchte.
    »Da saß ich damals in dieser Aula und hörte dem zu, was das Wichtigste in meinem Leben geworden war: Leas Spiel. Der erste Auftritt, von dem, ich ahnte es, so vieles abhing. Und just da bricht meine Phantasie aus und sucht sich eine Welt ohne Lea, eine Welt nur mit Marie. Kennen Sie das auch: daß die Phantasie im entscheidenden Augenblick abirrt und eigene, unbeherrschbare Wege geht, die verraten, daß man auch noch ein ganz anderer ist als der, für den man sich hielt? Gerade dann, wenn in der Seele alles geschehen darf, nur dieses eine nicht: Verrat durch die streunende Phantasie?«
11
    SOMERSET MAUGHAM vermochte mich nicht zu fesseln. Ich legte das Buch weg, öffnete das Fenster und horchte im Dunkeln in die Nacht hinaus. Ich hatte auf Van Vliets Frage nichts zu sagen gewußt. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und mich aus halb geschlossenen Augen angeblickt, ironisch, komplizenhaft und traurig. Dann war er aus der Lichtschranke getreten, und die Tür des Aufzugs hatte sich geschlossen. War es nur, daß die Frage so unerwartet kam? Oder war es die verblüffende Intimität, die mir die Sprache verschlagen hatte, eine Intimität, die noch weit darüber hinausging, daß ich zu seinem Zuhörer geworden war ?
    Liliane. Liliane, die mir beim Operieren den Schweiß von der Stirn tupfte. Liliane, die stets wußte, welcher Handgriff als nächster kam, welches Instrument ich als nächstes brauchte. Liliane, die mit ihren Gedanken vorauseilte, so daß keine Worte nötig waren und unsere Zusammenarbeit in stummem Gleichklang verlief. Zwei, drei Monate waren so vergangen. Ihr heller, blauer Blick über dem Mundschutz, ihre flinken, ruhigen Hände, grand , der irische Akzent, Kopfnicken auf dem Flur, das Klappern ihrer Clogs, mein unnötiger Blick ins Schwesternzimmer, die Zigarette zwischen ihren vollen Lippen, der ironische Antwortblick, länger als nötig, ein einziger Besuch im Chefzimmer, das immer wieder überraschende grand , wie ich es in Dublin gehört hatte, beim Hinausgehen einen Augenblick zu lange an der Tür, die Hüftbewegung, unbewußt, unmerklich, ein sanftes, lautloses Schließen der Tür, das wie eine Hoffnung war und ein Versprechen.
    Und dann die Notoperation in der Nacht von Leslies Geburt. Zuerst das erschöpfte Gesicht von Joanne, das schweißverklebte Haar, Leslies erster Schrei. Nachher zu Hause am offenen

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