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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zögernd, weil sie wußte, daß er von Liliane war. Ein kleiner Bogen Papier, eigentlich nur ein Zettel, hellgelb: Adrian – I tried, I tried hard, but I can’t, I just can’t. Love. Liliane.
    Ich habe kein Foto von ihr, und die drei Jahrzehnte haben ihre Züge verwischt. Zwei genaue Erinnerungsbilder aber sind geblieben, genau weniger in den sinnlichen Konturen als in der Ausstrahlung: am Tisch im Schwesternzimmer, rauchend, und: auf dem Sofa, mit untergeschlagenen Beinen, den Strohhalm zwischen den Lippen. Und ich habe ein Foto von der Treppe gemacht, auf der wir damals, in der Morgendämmerung, vor ihrem Haus saßen. Bevor wir Boston verließen, bin ich hingefahren und habe das Bild gemacht. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und Schnee türmte sich auf Geländer und Stufen. Ein Märchenbild. An Leslies Geburtstag denke ich daran, immer. Daran, daß ich sie an jenem Tag um ein Haar verraten hätte.
    Nach einem Jahr rief mich Liliane in der Klinik an. Sie war aus Boston geflohen und war nach Paris gegangen, zu den Médecins sans Frontières . Einsätze in Afrika und Indien. Es gab mir einen Stich. Das hätte ich mir auch vorstellen können. In der Nacht nach dem Anruf schützte ich Nachtdienst vor und blieb in der Klinik. Es paßte so gut zu ihr, so unheimlich gut, und ich beneidete sie um die Stimmigkeit ihres unsteten Lebens, um die Stimmigkeit, wie ich sie mir vorstellte. Faces along the bar/Cling to their average day:/ The lights must never go out,/The music must always play … Auch diese Zeilen von W.H. Auden hatte sie damals, auf dem Sofa, rezitiert. Sie hatten nach etwas bloß Atmosphärischem geklungen, etwas Privatem, wie eine Begleitmelodie zu einem Bild von Edward Hopper. Erst später entdeckte ich, daß sie zu einem eminent politischen Gedicht gehörten, das vom deutschen Überfall auf Polen handelte. Und auch das hatte gepaßt: In ihrem blauen Blick hatte neben der Hingabe auch Wut gelegen, Wut auf die Feiglinge und Übeltäter dieser Welt. Und so hatte sie ihre flinken, ruhigen Hände und die Schnelligkeit ihres Denkens in den Dienst der Opfer gestellt.
    In unregelmäßigen Abständen kamen weitere Anrufe, es waren sonderbare Gespräche, sprunghaft und intensiv, grand , sie sprach von Hunger und anderem Leid, dann wieder beschrieb sie mir ihre Stimmung, als hätten wir uns damals, in ihrem Flur, nicht nur mit der Stirn berührt, sondern auch mit den Lippen. Ich nannte ihr die Klinik, an der ich in der Schweiz arbeiten würde, und auch dorthin kamen Anrufe. Als sie mir von den Médecins sans Frontières erzählte, hatte ich nachher das Gefühl, auf dem falschen Kontinent zu leben. Und als wir in Kloten aufsetzten, dachte ich: Jetzt bin ich ihr näher. Es war Unsinn, denn sie konnte ja wer weiß wo sein; aber ich dachte es trotzdem. Darüber erschrak ich und warf Leslie neben mir einen verstohlenen Blick zu. Als die Anrufe Jahre später aufhörten, rief ich eines Tages in Paris an und fragte nach ihr. Sie war bei einem ihrer Einsätze tödlich verunglückt. Da wurde mir klar, daß ich die ganze Zeit über ein Leben mit ihr geführt hatte. Die Monate, in denen wir nichts voneinander gehört hatten und in denen ich auch nicht ausdrücklich an sie gedacht hatte, änderten daran nichts. Unser gemeinsames Leben ging weiter, schweigsam, bruchlos und verschwiegen.
    Van Vliets Frage vor dem offenen Aufzug hatte mich aus der Fassung gebracht, weil sie mir klargemacht hatte, daß ich dieses verschwiegene Leben mit Liliane immer noch lebte, obwohl ich es schon lange vor niemandem mehr verschweigen mußte. Un accident mortel , hatte der Franzose damals am Telefon gesagt. Etwas in mir muß sich geweigert haben, es zur Kenntnis zu nehmen, und so habe ich mit ihr weitergemacht, als lebte sie ihr streunendes Leben weiter, ihr Leben und mein Leben und unser Leben.
    Ich dachte an den Abschied von Joanne, den endgültigen Abschied am Flughafen. »I will say one thing for you, Adrian: You are a loyal man, a truly loyal man.« Ich weiß nicht, warum, aber es klang wie die Feststellung eines Charakterfehlers, unter dem sie hatte leiden müssen. Ein bißchen, als hätte sie gesagt: ein Mann ohne Phantasie, ein Langweiler. Ich hatte vorgehabt, von der Aussichtsterrasse aus zuzusehen, wie die Frau, mit der ich elf Jahre verheiratet gewesen war, zurück in ihre Heimat flog. Doch die Bemerkung hatte mich verstört, und ich ließ es. Zu Hause suchte ich das Foto von Lilianes Haus mit der verschneiten Treppe heraus.
    Ich war

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