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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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anderes Wort von mir, eine andere Betonung, und alles hätte anders kommen können. Etwas an meiner Geschichte über Lea hatte den Alten berührt. Wenn ich an ihn denke, dann als einen Mann, in dem es viele abgelagerte Gefühle gab, viel Bodensatz, dicke Schichten davon, und etwas davon war aufgewirbelt worden, vielleicht wegen seiner vergötterten Tochter, die es dem Gerücht nach gab, vielleicht auch einfach so. Vielleicht hätte ich ihn dazu bringen können, die Geige nicht mir, sondern sozusagen Lea zu schenken, er hatte sehr still dagesessen, als ich ihm von dem Abend erzählte, da sie ohne die Amati aus Neuchâtel gekommen war.
    Aber ich habe es verpfuscht, ich habe es, verdammtnochmal, verpfuscht. Du mußt dich mehr öffnen, Martijn, sagte Cécile oft, du kannst nicht erwarten, daß die Leute hinter dir herlaufen, um dich in deinen Gefühlen zu erraten. Auch mir mußt du dich mehr öffnen, sonst geht es schief mit uns , sagte sie. Gegen Ende sagte sie es besonders oft. Als ich bei meinem letzten Besuch durch den langen Krankenhausflur auf ihr Zimmer zuging, nahm ich mir fest vor, ihr zu sagen, wieviel sie mir bedeutete. Doch dann kamen jene Worte: ›Du mußt mir versprechen, daß du gut auf Lea …‹. Nun konnte ich nicht mehr, ich konnte einfach nicht. Merde. Wo hätte ich es auch lernen sollen. Meine Mutter war Tessinerin, es gab Wutausbrüche, aber die Sprache der Gefühle, die Fähigkeit zu sagen, wie es einem geht – das hat mir niemand gezeigt.«
    Er warf mir einen fragenden Blick zu. »Mir auch nicht«, sagte ich. Und dann fragte ich ihn, warum er dem Alten nicht von dem Betrug erzählt habe, das hätte ihn vielleicht beeindruckt.
    »Ja, das habe ich mich auf der Rückfahrt auch gefragt. Eigentlich war er genau der Mann dafür. Es muß gewesen sein, weil die Sache zentnerschwer auf mir lastete und mich in den Schlaf hinein verfolgte. Immer wieder fragte mich Ruth Adamek im Traum nach dem Paßwort, und an ihrem Gesicht war klar zu erkennen: Sie wußte alles . Deshalb. Ich habe erwogen, in Mailand den Zug zurück zu nehmen und noch einmal mit ihm zu sprechen. Aber zu bitten, daß er mir das Geld zurückgebe – nein, das ging nicht. Daß er das Geld jetzt hatte, machte es unmöglich.«
    Van Vliet nahm einen Bissen von dem Essen, das wir uns aufs Zimmer hatten bringen lassen. Man sah: Er schwankte zwischen Hunger und Widerwillen.
    »Die Sache mit dem Geld müßte einer mal aufschreiben. Einfach alles erzählen: Armut, Reichtum, die Euphorie des Goldes, Verlust, Betrug, Beschämung, Demütigung, ungeschriebene Regeln – alles. Geradlinig. Ungeschminkt. Die ganze verdammte Geschichte über das Geldgift. Darüber, wie es die Gefühle verätzt.«
    Er hatte Signor Buio das Geld auf den Tisch gezählt, mille milioni , ein gutes Geschäft, nüchtern betrachtet. Ein Haufen Scheine, der da auf dem Tisch lag. Der Alte hatte nicht gierig danach gegriffen, das Geld vielmehr liegen lassen und in einer Haltung betrachtet, die deutlich machte: Es war egal, ob er es hatte oder nicht, er brauchte es nicht.
    »Das war der allerletzte Moment«, sagte Van Vliet, »und ich habe ihn verstreichen lassen.«
    Beim Umsteigen in Mailand verfolgte ihn der Gedanke, jemand könnte an die Geige stoßen und sie kaputtmachen. Ängstlich nahm er den Kasten unter den Arm und preßte ihn an sich. Es war ein schäbiger Kasten, der zu dem Alten paßte. Er hatte Van Vliet angesehen, daß er ihn schäbig fand. »Il suono!« sagte er spöttisch. Auf den Klang kommt es an!
    Die anderen Leute im Zug schenkten weder der Geige noch dem Geldkoffer besondere Aufmerksamkeit. Trotzdem war sein Hemd schweißnaß, als er in Thun ausstieg. Er zahlte das übriggebliebene Geld ein, dann fuhr er nach Bern und ging auf direktem Weg zu Krompholz, um die Geige mit neuen Saiten bespannen zu lassen.
    Katharina Walther warf einen verwunderten Blick auf den schäbigen Kasten, dann machte sie ihn auf.
    »Ich glaube nicht, daß sie sofort wußte, daß sie eine Guarneri vor sich hatte. Doch daß es ein kostbares Instrument war – das sah sie. Sie sah mich an und sagte nichts. Dann ging sie nach hinten. Als sie zurückkam, war ein sonderbarer Ausdruck auf ihrem Gesicht. ›Eine del Gesù‹, sagte sie, ›eine echte Guarneri del Gesù ‹. Ihre Augen verengten sich ein bißchen. ›Sie muß ein Vermögen gekostet haben.‹
    Ich nickte und sah zu Boden. Sie war nicht Ruth Adamek im Traum, sie konnte es nicht wissen. Im Traum dieser Nacht freilich wußte sie es. Und

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