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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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deshalb hatten ihre Worte etwas Richterliches und Bedrohliches, als sie sagte: ›Das sollten Sie auf keinen Fall tun, auf keinen Fall.‹ In Wirklichkeit sagte sie etwas anderes: ›Um sie die Amati vergessen zu lassen, ich verstehe. Trotzdem … ich weiß nicht … meinen Sie nicht, es könnte sie … sagen wir: überfordern? Daß sie dann meint, sie müsse unbedingt zurück in diese Umlaufbahn, diese verrückte Umlaufbahn? Ich will mich nicht einmischen, aber meinen Sie nicht, sie sollte erst einmal zu sich kommen? Wie lange ist es jetzt her, daß Sie die erste Geige für sie kauften, die kleine? Zwölf, dreizehn Jahre? Alles ein bißchen atemlos, fand ich immer, und dann haben Sie mir ja von dieser Krise erzählt … Aber natürlich bespannen wir Ihnen die Geige bis heute abend, es wird dem Kollegen eine Ehre sein, er ist ganz aus dem Häuschen.‹
    Warum habe ich nicht auf sie gehört!«
    Van Vliet fuhr ins Büro und überwies das restliche Geld zurück auf das Forschungskonto. Auf dem Flur ging Ruth Adamek wortlos an ihm vorbei. Er legte sich auf die Couch, um kurze Zeit danach mit klopfendem Herzen aufzuwachen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, das Herz könnte ihn eines Tages im Stich lassen.
    Katharina Walther brachte ihm die Geige in einem neuen, eleganten Kasten. Ein Geschenk des Hauses, wie sie sagte. Und sie entschuldigte sich für die Einmischung. Der Kollege kam. Er hatte darauf gespielt. »Dieser Klang«, sagte er nur, »dieser Klang.«
    Van Vliet fuhr nach Hause. Bevor er hinaufging, setze er sich in das Café an der Ecke. Nach zwei, drei Schlucken ließ er den Kaffee stehen. Das Herz hämmerte. Er konzentrierte sich aufs Atmen, bis es besser wurde. Dann ging er hinauf und betrat die Wohnung mit einer der kostbarsten Geigen der Welt, die alles wieder in Ordnung bringen sollte.
25
    LEA HATTE GESCHLAFEN . Sie schlief zu den unmöglichsten Zeiten, dafür geisterte sie nachts durch die Wohnung und scheuchte den Hund auf. Jetzt sah sie den Vater verwirrt an, mit schlaftrunkenem, unstetem Blick. »Du bist so lange … Ich habe nicht gewußt …«, sagte sie mit schwerer Zunge. In der Küche fand der Vater später leere Weinflaschen.
    »Ich dachte an jene fernen Nächte zurück, in denen ich am Rechner gesessen hatte, bis ich ihre ruhigen Atemzüge hörte«, sagte Van Vliet. »Verglichen mit heute: Was war das für eine glückliche Zeit gewesen! Seitdem waren mehr als zehn Jahre vergangen. Ich stand da, sah meine verschlafene und ein bißchen verwahrloste Tochter vor mir, und wünschte mir mehr als alles andere, daß ich die Zeit zurückdrehen könnte. Schon seit längerem, wenn ich nachts wachlag, feilschte ich mit dem Teufel, damit er mir diesen einen Wunsch erfülle: mit Lea zurückreisen zu können bis vor den Tag, an dem wir Loyola de Colón im Bahnhof gehört hatten. Meine Seele hätte er dafür haben können. Ich stellte mir diese Reise in der Zeit so lebhaft vor, daß es mir für Augenblicke gelang, daran zu glauben. Dann durchlebte ich im Halbschlaf erlöste, glückliche Augenblicke. Davon wollte ich immer mehr haben. So wurde ich süchtig nach diesen tagträumenden Zeitreisen.«
    Doch jetzt galt es, den anderen Tagtraum wahrzumachen: daß Lea die Guarneri nähme, aufstünde und die Wohnung mit ihren sakralen Tönen fülle. Sie war inzwischen wach und warf einen fragenden Blick auf den Geigenkasten. Van Vliet machte Kaffee, während sie sich anzog. Als sie dann, wie befohlen, mit geschlossenen Augen am Küchentisch saß, legte er die Geige vor sie, setzte sich ihr gegenüber und gab das Kommando.
    Lange Zeit sagte sie kein Wort, fuhr mit den Fingern stumm die Konturen des Instruments entlang. Als sie mit der Hand über den hellen Fleck der Kinnstütze strich, hoffte Van Vliet auf ein Zeichen des Erkennens, eine Bemerkung über Il Cannone . Doch Leas Gesicht blieb ausdruckslos, der Blick stumpf. Er trat hinter sie und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Sie stellte die Geige schräg und las den Zettel. Ihr Atem ging schneller. Sie nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und richtete den Lichtstrahl selber hinein. Je länger es dauerte, desto mehr Hoffnung schöpfte Van Vliet: Die Buchstaben mit dem großen, dem heiligen Namen würden tief in sie eindringen, und dann würden Überraschung und Freude sie explodieren lassen. Doch es dauerte und dauerte, und plötzlich schoß die Angst in ihm hoch, dieselbe Angst wie damals, als er durch den Türspalt gehört hatte, wie sie Nikki Niccolò nannte.

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