Lea
War sie schon zu sehr in sich versunken, um vom Zauber des magischen Namens noch erfaßt werden zu können?
Van Vliet muß das Schweigen nicht mehr ertragen haben, ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür. Ein Verbrechen und eine verrückte Reise für nichts. Die Müdigkeit überspülte ihn, betäubte Enttäuschung und Verzweiflung und ließ ihn einschlafen.
Als Lea mitten in der Nacht zu spielen begann, war er sofort hellwach und stürzte hinaus. Sie hatte im Musikzimmer alle Möbel an die Wand geschoben und stand in einem ihrer langen, schwarzen Konzertkleider, frisiert und geschminkt, mitten im Raum. Sie spielte die Partita in E-Dur von Bach. Für einen Augenblick muß Van Vliet ein Gefühl des Unheils gespürt haben, denn das war die Musik, die Loyola de Colón gespielt hatte. Es war, dachte er vage, nicht gut, daß der Neubeginn in einer Reminiszenz bestand, einer Rückkehr zu jener Erweckungsmusik. Es haftete dem etwas Rituelles an, etwas Unpersönliches, dessen bloße Trägerin sie war, statt daß sie in der Wahl der neuen Töne ganz sie selbst gewesen wäre. Doch dann wurde er überwältigt von den warmen, goldenen Tönen, die mit ihrer Kraft und Klarheit die Wände zu sprengen schienen. Und noch viel mehr überwältigte ihn die Konzentration auf Leas Gesicht. Nach Monaten, in denen dieses Gesicht alle Spannkraft verloren hatte und vorzeitig gealtert war, war es jetzt wieder das Gesicht von Lea van Vliet, der strahlenden Geigerin, die die Konzertsäle füllte.
Und doch gab es auch etwas, das ihn beunruhigte, als er sich im Flur auf einen Stuhl setzte und ihr durch die offene Tür zusah.
»Warum hatte sie es nötig gehabt, sich zurechtzumachen, als stünde sie im Konzertsaal? Sie hatte sich die Nägel geschnitten, es war eine große Erleichterung, das zu sehen. Es ist schrecklich, eine Botschaft purer Verzweiflung, wenn eine Geigerin die Nägel so lange wachsen läßt, bis sie damit nicht mehr spielen kann. Aber das Kleid, der Puder, der Lippenstift – und all das mitten in der Nacht?
Monatelang hatte sie zusammengekauert gelebt, innerlich und oft auch äußerlich. Nun hatte sie sich wieder aufgerichtet und Verbindung mit derjenigen Schicht ihrer selbst aufgenommen, mit der sie sich der Welt früher gezeigt hatte. Als ich ihr damals zusah und zuhörte, beunruhigt wegen des gespenstischen Charakters der nächtlichen Szene, nahm dieser Gedanke in mir Gestalt an: Meine Tochter, sie ist ein geschichtetes Wesen; sie besteht aus seelischen Schichten, lebt auf verschiedenen Plateaus, die sie betreten und verlassen kann, und nun hat sie wieder auf dasjenige Plateau zurückgefunden, das lange Zeit leer und unbeleuchtet geblieben war, ein bißchen wie der verlassene Perron eines stillgelegten Bahnhofs.
Ich betrachtete ihr Mienenspiel, das noch nicht so flüssig war wie früher und in seinem gelegentlichen Stocken die Spuren der vorherigen Erstarrung in sich trug. Und da dachte ich zum ersten Mal einen noch anderen Gedanken, den ich in der kommenden Zeit oft denken und über den ich jedesmal von neuem erschrecken sollte: Sie hat keine Kontrolle über diesen Wechsel der Schichten, sie führt nicht Regie in diesem Drama; wenn sie ein inneres Plateau betritt oder verläßt, ist das ein pures Geschehen, vergleichbar einer geologischen Umschichtung, hinter der es auch keinen Akteur gibt.
Vielleicht werden Sie denken, und ich selbst dachte es manchmal auch: So ist es bei uns allen. Und das stimmt ja auch. Doch in dem inneren Drama, das sich von nun an in Lea entfaltete, gab es Brüche und abrupte, ruckartige Veränderungen, die ein besonders grelles Licht auf die Tatsache warfen, daß die Seele viel mehr ein Ort des Geschehens als des Tuns ist.«
Van Vliet schwieg eine Weile und sagte dann etwas, das mir besonders in Erinnerung geblieben ist, weil eine Furchtlosigkeit des Denkens daraus sprach, die Teil seines Wesens war: »Das Erlebnis der inneren Fugenlosigkeit – es verdankt sich der quecksilbrigen Flüssigkeit des Wechsels und der Virtuosität, mit der wir alle Brüche sofort wegretouchieren. Und diese Virtuosität ist um so größer, als sie nichts von sich weiß.«
Ich betrachte das Bild an der Lampe, den Schattenriß des trinkenden Mannes im Gegenlicht. Aus dem rotzigen Straßenbengel, dem anarchistischen Schüler und dem verschlagenen Schachspieler war ein Mann geworden, der wußte, wie zerbrechlich das seelische Leben ist und wie vieler Notbehelfe und Täuschungen es bedarf, damit wir es mit uns selbst
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