Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
am Morgen segelten sie aus dem Konstanzer Trichter hinaus in den Überlinger See. In einer geschützten Bucht unweit der Mainau schwammen sie, tranken den in einer Kühlbox mitgebrachten Wein vom Aufricht, dem besten Winzer am See. Dazu aßen sie Pata-Negra-Schinken, den er am Mittag zuvor bei Donato gekauft hatte, einem kleinen Feinkostgeschäft, in dem es roch und klang, als wäre es direkt vom Mittelmeer an den Bodensee verpflanzt worden.
»Leben wir nicht im Paradies?«, fragte Leah und schob ihm ein Stück des köstlichen Schinkens in den Mund. Damals fühlte es sich so an. Insgeheim aber wusste Thal, dass ihn nicht der See mit all seiner Schönheit und seinen Genüssen glücklich machte. Sein Glück war einzig und allein das Leben mit Leah. Mit ihr wäre er überall hingegangen. Fast überallhin. Vor vierzehn Jahren wurde ihr, obwohl sie erst dreißig Jahre war, ein Lehrauftrag an der Akademie der bildenden Künste in München angeboten, deren Klassen für angewandte Kunst ausgewiesene Künstler leiteten. Leah war inzwischen eine nachgefragte Malerin mit gefeierten Ausstellungen in verschiedenen deutschen Städten, aber auch in Mailand, Paris und New York.
Sie war begeistert von der Aussicht, zurück in ihre Heimatstadt zu ziehen, wo ihr Vater als Professor für Orientalistik und ihre Mutter als erfolgreiche Verfasserin historischer Romane arbeitete. Thal lehnte sich zum ersten und zum letzten Mal gegen einen ihrer Wünsche auf. Er hasste München, das weltmännische Gehabe, das Geprotze und die Bussi-Gesellschaft, in der sich Leahs Eltern bewegten. Außerdem blieb das Verhältnis zu seinen Schwiegereltern angespannt, sie sahen in ihm keinen standesgemäßen Mann für ihre Tochter. Liebe zöge er, ein Landkind, zurück aufs Land. Deshalb empfand er es als glückliche Fügung, dass er durch Zufall in einem Stellen-Tauschring von einer freien Kriminalkommissar-Stelle in Konstanz erfuhr. Von hier konnte Leah in akzeptabler Zeit München erreichen, wo sie während der Semester drei Tage in einem kleinen, gemieteten Apartment wohnte. Die Eltern boten ihr an, das alte Kinderzimmer zu beziehen. Sie lehnte ab.
»An den Bodensee zu ziehen, war die beste Idee, die du je hattest«, sagte Leah an jenem Herbsttag auf dem Boot.
Thal ließ seinen Mittelfinger sanft von ihrer Nasenspitze über ihre Lippen und ihr Kinn hinuntergleiten.
»Nein, die beste Idee war, dich zu fragen, ob du meine Frau werden möchtest. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Überwindung mich das gekostet hat. Ich, der fünfzehn Jahre ältere Bulle, der nichts anderes konnte und wollte, als Polizist zu sein, bildete mir ein, dass du, eine junge, bildhübsche, intelligente und gebildete Frau, der die Welt in jeder Beziehung offensteht, mein graues Leben mit mir teilt. Das schien mir absurd. Noch heute denke ich oft, das ist alles nur ein Traum.«
Thals Finger hatte den Verschluss von Leahs Bikinioberteil erreicht. Sie richtete sich auf und sagte:
»Komm!«
Sie zog ihn in die winzige Kajüte, und sie liebten sich, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Danach, sie lag entspannt in seiner Armbeuge, redeten sie über die Zukunft, darüber, dass er in einem Jahr endlich frei sein würde. Sie nähme sich ein Sabbatical, und sie könnten zwölf Monate um die Welt reisen. Sie redeten, machten Pläne, träumten, liebten sich erneut - und bemerkten nicht, dass sich draußen das Wetter änderte. Als sie am späten Nachmittag die Kajüte verließen, lagen sie allein in der Bucht, alle anderen Boote waren in schützende Häfen gesegelt. Das Wetter war umgeschlagen, drohende Wolken zogen vom Norden heran, und der Wind frischte stürmisch auf. Sie schafften es, frierend und bis auf die Haut nass, den Hafen zu erreichen.
Thal stand auf und ging zurück Richtung Stadtmitte. Ihm war kalt geworden, seine Füße spürte er kaum noch. In seinen Gedanken herrschte Chaos. Was hatten sie für Pläne, wie neugierig waren sie auf die Zukunft!
»Du musst mindestens neunzig werden«, hatte Leah damals auf dem Boot gesagt, »sonst reicht unser Leben nicht für all das, was noch auf uns wartet.«
Ihre einzige, gemeinsame Sorge war, er könne zu früh sterben. Und dann riss ein vom Zorn und Hass auf ihn, den Kriminalhauptkommissar Alexander Thal, angetriebener Mann sie, die wunderbare Frau und Künstlerin Leah Braasch, in den Tod, der für ihn gedacht war. Und er? Was machte er aus all den gemeinsamen Plänen? Er vergaß sie, legte sie ad acta, jagte
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