Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
wurden? Nur die teuersten Gemälde, die begehrtesten Münzen und die wertvollsten Antiquitäten. Es sieht so aus, als wären die Täter Experten auf allen Gebieten. Nicht ein einziges Mal haben sie irgendeinen Schund mitgenommen. Das ist doch komisch, oder?«
Thal kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Stephanie Bohlmann steuerte den Golf auf einen Parkplatz vor einem grauen Wohnblock, wie es in den Randbezirken viele gab. Obwohl es von hier bis zur Seestraße nur ein paar Kilometer waren, lagen Welten dazwischen. Touristen verirrten sich nie in diese Konstanzer Realität.
Stephanie Bohlmann klingelte bei Genzle. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich eine raue Frauenstimme mit einem kurzen »Ja« meldete.
Die Polizistin erklärte, was sie wollten, und es ertönte ein schnarrender Türöffner.
Thal folgte seiner Kollegin in ein deprimierendes Treppenhaus. Die Farbe an den Wänden war seit mehr als zehn Jahren nicht erneuert worden. Hätte man den Schimmel an der Decke nicht gesehen, hätte man ihn gerochen. Den Weg zur Treppe versperrten Kinderwagen und Fahrräder.
Sie stiegen hinauf in den vierten Stock, wo Elisabeth Genzle sie an der Wohnungstür empfing. Sie war höchstens fünfundzwanzig Jahre und dick. Thal schätzte ihr Gewicht auf zwei Zentner. Sie trug ein Kleid aus Sweatshirtstoff, das eine Handbreit über dem Knie endete und ihre fleischigen Oberschenkel im wahrsten Sinne des Wortes zur Schau stellte. An den Füßen hatte sie Hausschuhe in Form eines Tigerkopfs, dazu braune Wollsocken.
»Es tut mir leid, aber da drin ist nicht aufgeräumt. Es wäre mir lieber, wir können das hier draußen erledigen.«
Sie strich sich eine Strähne ihres feuerroten Haares aus der Stirn, dessen Farbe dringend erneuert werden musste. An der Wurzel war ein Zentimeter des ursprünglichen Blonds zu sehen. Elisabeth Genzle hatte eindeutig eine lange Nacht hinter sich. Der Alkoholfahne nach zu urteilen, die Thal augenblicklich Unwohlsein verursachte, dürfte sie knapp an einer Alkoholvergiftung vorbeigeschrammt sein. Auf keinen Fall war sie eine der Frauen auf den Fotos.
Stephanie Bohlmann ließ sich kurz die Geschichte von einem Kneipenbesuch erzählen, bei der ein »ältlicher Herr um die vierzig« versucht hatte, die Zeugin zu begrapschen. Eine Allerweltsgeschichte, die man an Fastnacht in jeder x-beliebigen Konstanzer Kneipe beobachten konnte. Bohlmann machte sich pro forma ein paar Notizen, bedankte sich bei der Zeugin für den Hinweis und versprach, der Sache nachzugehen.
»Vielleicht sollten wir die Kollegen anweisen, dass sie zukünftige Anrufer nicht nur nach dem Alter, sondern auch nach dem Gewicht fragen, damit wir uns solche Spazierfahrten in die Einöde sparen.«
Die zweite Anruferin wohnte in Staad. Thal nutzte die Fahrt, um mehr über Stephanie Bohlmann zu erfahren. Als sie vor dem schmucken Einfamilienhäuschen in Sichtweite der Anlegestelle der Autofähre, die Konstanz mit Meersburg verbindet, hielten, wusste er, dass sie ledig und zurzeit ohne festen Freund war. Sie bezeichnete sich als Leseratte, die selten ausging. Polizistin war sie geworden, um Schwung in ihr Leben zu bringen. Allerdings hatte sie sofort eingewendet, dass »Konstanz dafür nicht ganz der richtige Ort« sei.
Je länger sie sich unterhielten, desto sympathischer wurde sie ihm. Vor allem gefiel Thal ihre Fähigkeit zur Selbstironie, die nicht vielen Polizisten gegeben war. So bedauerte er die gemeinsam verbrachte Zeit nicht, obwohl auch die zweite Zeugin, eine Studentin, nicht auf den Fotos zu sehen war. Immerhin war ihre Geschichte interessanter. Zwei Männer hatten auf der Fastnachtsparty der Universität versucht, ihr ein Betäubungsmittel einzuflößen. Weil sie es rechtzeitig bemerkte, verweigerte sie den angebotenen Drink. Daraufhin beschimpften sie die Männer und suchten das Weite. Stephanie Bohlmann notierte die genaue Beschreibung der beiden Studenten und sagte eine weitere Überprüfung zu.
Anderthalb Stunden, nachdem sie aufgebrochen waren, kehrten Alexander Thal und Stephanie Bohlmann ins Präsidium zurück. Thal hatte sich gerade den dritten Espresso des Tages zubereitet und wartete auf die übrigen Kollegen, um die Lage zu besprechen, als die Zentrale ihn über eine weitere Anruferin informierte. Sie sei gestern überfallen worden und wolle Anzeige erstatten. Obwohl Thal für heute genug von erfolglosen Zeugenvernehmungen hatte, beschloss er, die Frau selbst aufzusuchen, zumal sie nur einen kurzen
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