Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
stattdessen einen Verbrecher, wie er es immer getan hatte. Als gäbe es kein anderes Leben. Thal beschleunigte seine Schritte. Er war wütend. Wütend auf sich, vor allem aber wütend auf den Fotografen, dem zweiten Menschen, der ihm seine Zukunft raubte.
***
Auf dem Schreibtisch lagen acht Meldungen, die aufgrund des Presseartikels in der Zentrale eingegangen waren. Um sich von den aufwühlenden Gedanken, die ihn am See überfallen hatten, zu befreien, bereitete er sich zunächst einen Espresso zu. In den Schriften eines Zen-Meisters hatte er von der Bedeutung wiederkehrender Rituale bei der Besänftigung des Geistes gelesen.
Zur Ruhe gekommen, setzte er sich an den Schreibtisch und las die Notizen. Sechs der acht Frauen, die im Laufe des Vormittags angerufen hatten, weil sie sich in den letzten Tagen belästigt fühlten, konnten nicht die Opfer auf den Fotos sein, sie waren zu alt. Trotzdem sollte er einen Kollegen bitten, sich mit ihnen zu unterhalten, möglicherweise ergaben sich Hinweise auf andere Verbrechen. Blieben zwei Anrufe, denen nachzugehen war – eine hohe Quote nach Presseaufrufen. Er nahm die entsprechenden Blätter mit in Bettina Bergs Büro. Weder sie noch Wagner saßen an ihren Schreibtischen, bestimmt waren sie zum Mittagessen gegangen. Auf dem Flur kam ihm Stephanie Bohlmann entgegen, die er bat, ihn zu begleiten. Er reichte ihr den Schlüssel seines Dienst-Golfs, was sie mit einem erstaunten Anheben der Augenbrauen quittierte. Thal fuhr nur selbst, wenn es sich nicht vermeiden ließ, er hatte das Autofahren schon als junger Mann gehasst. Die notwendigen Fähigkeiten automatisierten sich nie, das Steuern eines Fahrzeugs forderte seine volle Konzentration und ließ ihm keine Möglichkeit, über andere Dinge nachzudenken.
»Danke, dass Sie mich in Ihre Gruppe geholt haben. Alleine mit Gerth hätte ich es kaum ausgehalten.«
Stephanie Bohlmann steuerte den Wagen auf die Reichenaustraße Richtung Wollmatingen, wo die erste Zeugin wohnte.
»In seinem Büro müssen Sie allerdings vorerst bleiben. So ganz kann ich Sie aus seinen Fängen nicht befreien.«
Thal lächelte sie an, um das Eis zwischen ihnen weiter zu schmelzen. Er kannte seine jüngste Mitarbeiterin kaum. Sie hatte ihren Dienst im September angetreten, fast den ganzen Oktober hatte Thal mit Leah auf Bali verbracht, und am 15. November explodierte die Bombe. Er betrachtete sie unauffällig von der Seite, während sie sich auf den Verkehr konzentrierte. Wie viele schlanke, blonde Frauen wirkte sie blass. Das bezog sich nicht nur auf ihren Teint, sondern auf ihre gesamte Erscheinung. Obwohl sie keine dreißig war, kleidete sie sich langweilig. Thal konnte sich nicht erinnern, sie anders als in Jeans und Sweatshirt gesehen zu haben. Ein paar Tage in der Sonne und ein bisschen mehr Mut zur Farbe täten ihr gut. Sie hatte eine gute Figur und ein hübsches Gesicht, nur machte sie leider nichts daraus, sondern band ihre Haare zu einem Knoten zusammen, was ihr strenges Aussehen unterstrich.
Stephanie Bohlmann nahm den Gesprächsfaden auf.
»Ich muss Gerth ohnehin noch erzählen, was mir zu unserer Einbruchsserie in den Sinn gekommen ist.«
»Da bin ich genauso gespannt.«
Thal drehte sich zu seiner Kollegin und hielt den Gurt mit der rechten Hand vom Körper.
»Gerth wird mich wegen dieser Spinnerei auslachen, aber ich habe vor ein paar Wochen eine Autorenlesung besucht. Kennen Sie Markus Baumann?«
Thal schüttelte den Kopf.
»Dachte ich mir, Sie lesen bestimmt keine Krimis, dabei ist Baumann gut. Wie dem auch sei, ich habe mir seine Lesung hier in der Stadt angehört. Zum Schluss las er ein Kapitel aus seinem neuen Roman, der erst in den kommenden Wochen erscheint. Darin geht es um eine Einbruchsserie, bei der sich die Opfer untereinander verabreden. Sie brechen gegenseitig in ihre Villen ein, stehlen die wertvollen Dinge, verhökern anschließend das Diebesgut und kassieren die Versicherung.«
Thal war amüsiert. Die Kollegin besuchte also Autorenlesungen und holte sich Anregungen für ihre Ermittlungen aus Kriminalromanen. Andererseits wusste er zu gut, dass die Inspiration, die den entscheidenden Puzzlestein zur Aufklärung einer Tat lieferte, seltsame Wege gehen konnte. Deshalb lachte er sie nicht aus, sondern wandte trocken ein:
»Ein bisschen weit hergeholt, finden Sie nicht?«
»Es ist halt ein Roman. Aber ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass in den Konstanzer Villen immer nur kostbare Stücke gestohlen
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