Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
hat mir der Arzt erzählt.«
Sie deutete mit der Hand auf den Treppenabsatz ein Stockwerk tiefer. Dort standen, in Plastiktüten eingepackt, zwei kniehohe, schwarze Lackstiefel.
Thal ließ Tamara Koloscheks Hand los und legte sie in ihren Schoß zurück.
»Ich lasse Sie jetzt nach Hause bringen. Ruhen Sie sich erst einmal aus.«
Er gab einem der Polizisten ein Zeichen, sich um die Frau zu kümmern. Als er mit Bettina Berg auf seine Wohnungstür zuging, rief Tamara:
»Herr Thal, darf ich kommen wieder? Bitte.«
Thal drehte sich um.
»Natürlich, Tamara. Am besten gleich am Montag. Den Schlüssel haben Sie ja noch.«
Bettina lächelte, als Thal dem dicken Buddha auf einem kleinen, hölzernen Tisch neben der Eingangstür über den Bauch streichelte. Sie war in all den Jahren zwei oder drei Mal hier gewesen, und jedes Mal faszinierte sie die karg, aber beeindruckend eingerichtete Wohnung. Als Thal den zentralen Lichtschalter in der Diele betätigte, flammten überall in der geräumigen Wohnung Lampen auf. Bei der Beleuchtung war nichts dem Zufall überlassen worden, sie erzeugte Inseln unterschiedlicher Helligkeit und Stimmung, die vor allem dem zentralen Raum eine Struktur gaben. Die Möbelstücke waren Meisterwerke hinsichtlich des Designs und der Verarbeitung. Jedes hatte genug Platz, seine Wirkung zu entfalten. Dazu kamen wenige, aber ausgesuchte Kunstwerke. Bilder von befreundeten Malern, kleine Skulpturen, Plastiken, ein Jahrhunderte alter, ein Meter fünfzig großer Buddha aus Laos. Was für ein Unterschied zu ihrer Wohnung, dachte Bettina Berg, und das lag nicht an der puren Größe, obwohl allein Thals Wohnraum größer war als ihre gesamte Zwei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung mit ihren fünfundsechzig Quadratmetern. Ihr Wohnzimmer war vollgestopft mit Krimskrams und Souvenirs, die sie auf Trödelmärkten und Ferienreisen gekauft hatte. Thals Wohnung dagegen war ein mit sicherer Hand gestaltetes Gesamtkunstwerk. Bettina bewunderte am meisten, dass Leah eine freundliche Atmosphäre geschaffen hatte, die jeden Besucher sofort willkommen hieß. Man fühlte sich von Wärme umhüllt. Was für ein Unterschied zu vielen modern eingerichtete Wohnungen, die Bettina im Zuge von Ermittlungen betreten hatte, in denen man augenblicklich zu frieren begann.
Bettina deutete auf ein Bild, das am Boden stand.
»Neu?«
»Im Gegenteil. Ich habe es abgehängt, weil ich es nicht mehr mag. Eigentlich mochte ich es nie. Vielleicht kann ich es verkaufen.«
Obwohl es nur ein Bild war, das Thal weggeben wollte, schien es Bettina weit mehr zu bedeuten. Er trennte sich von etwas, das Leah angeschafft hatte, das ihr vielleicht wichtig war. Es erschien ihr wie der Beginn einer Emanzipation, der erste Schritt einer langen Reise.
Thal bereitete den Kaffee zu, einen Cappuccino für Bettina und einen Espresso für sich selbst. Es klingelte an der Tür. Bettina öffnete, davor stand Grendel, in einen Plastikoverall gehüllt, und hielt ihr den Beutel mit dem Briefumschlag entgegen.
»Wenigstens den habt ihr vernünftig versorgt. Der Rest des Tatorts ist ein einziger Saustall, da werden wir nicht viel finden.«
Thal kam mit den beiden Tassen aus der Küche und ging direkt zu dem Computerbildschirm. Bettina setzte sich auf einen Lederhocker neben ihn, als er den Chip in den Rechner schob. Beide hielten den Atem an. Die Datei trug den Namen »Die Erfüllung«. Sie enthielt wie erwartet sechs Fotos. Bettina beobachtete fasziniert, wie Thal sie dank des berührungsempfindlichen Bildschirms aus dem Dateiordner zog und nebeneinander auf dem Bildschirm anordnete, ehe er eines nach dem anderen vergrößerte. Das Opfer trug auf allen Fotos nur schwarze, halterlose Strümpfe und über die Knie reichende Stiefel mit hohem Absatz. Im Gegensatz zu den anderen Opfern war die Frau dünn. Ihre Brüste waren mädchenhaft klein. Der knabenhafte Oberkörper stand in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu den ausgeprägten Hüften. Bettina kam die Figur der Frau fast androgyn vor. Die Abbildungen waren eindeutig pornografisch, es ging dem Fotografen ausschließlich um die erniedrigende Zurschaustellung des Schambereichs der Frau. Das fünfte Bild ähnelte von der Inszenierung einer Aufnahme von Catrin Scheffel. Wieder handelte es sich um eine Masturbationsszene ‒ war es damals der Handschuh, so steckte jetzt der Stiefelabsatz in der Vagina der Frau. Das letzte Foto erklärte, warum Tamara davon gesprochen hatte, die Frau habe »wie Schwein auf Stange«
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