Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
ein Parodist Henry Kissinger zum Besten geben würde. Thal überlegte einen Augenblick, ob er ihm ebenfalls anbieten sollte, den Vornamen zu benutzen, unterließ es aber. Stattdessen kam er direkt zur Sache und legte das Foto von Leahs unvollendetem Gemälde auf den Tisch. Am liebsten hätte er Kaufman sofort mit den Abscheulichkeiten des Fotografen konfrontiert, wollte damit aber warten, bis die Kellnerin seine Bestellung gebracht hatte.
»Kennen Sie diese Arbeit meiner Frau?«
Kaufmann nahm das Bild in die Hand. Er betrachtete es mit einem Lächeln wie ein Liebhaber das Bild der Angebeteten.
»Das sieht Leah ähnlich. Sie hat sich oft selbst das Thema einer Examensarbeit vorgenommen, wissen Sie. Nicht etwa, weil sie den Studenten zeigen wollte, wie wenig sie an ihre Kunst heranreichten, das wäre ihr nie eingefallen. Nein, sie wollte ein intensives Gefühl für das Thema bekommen, und das gelang ihr am besten, wenn sie es umsetzte.«
Kaufman machte eine kurze Pause, bei der er weiter das Foto betrachtete. Er seufzte leise auf.
»Was für ein Kunstwerk wäre es geworden. Leider hat sie es nicht mehr vollenden können.«
Thal war versucht, Jason Kaufman patzig zu antworten, dass er selbst sehe, dass Leah das Bild nicht fertig gestellt hatte, konnte sich aber rechtzeitig zurückhalten. Er spürte, dass sein Gegenüber ehrlich um Leah trauerte, darin waren sie einander verbunden.
»Sie meinen, es handelt sich bei diesem unvollendeten Gemälde um Leahs Umsetzung des von ihr gestellten Examensthemas?«
»Genau so ist es, Alexander.«
Anscheinend ging Kaufman stillschweigend davon aus, Thal habe, als er sein Angebot, ihn beim Vornamen zu nennen, nicht ablehnte, ihm das gleiche Recht eingeräumt. Thal ließ es unwidersprochen, und Kaufman fuhr fort.
»Am Ende des Sommersemesters hatte Leah wie üblich das Thema für die Abschlussarbeit verkündet. Im Sinnestaumel .«
Im Sinnestaumel. Thal murmelte die Worte vor sich hin, als müsse er sie aussprechen, um sie zu verstehen.
»Das war also das Examensthema für die Meisterschüler?«
Kaufman lachte auf.
»Um Gottes willen, Alexander! Die Meisterschüler sprachen ihre Themen individuell mit Leah ab. Es war selbstverständlich das Thema für den allgemeinen Abschluss.«
Die Kellnerin trat an ihren Tisch und brachte Thals Mineralwasser. Als sie gegangen war, zog er die vierundzwanzig Fotos aus der Tasche und legte sie mit dem Rücken nach oben in der entsprechenden Reihenfolge auf den Tisch. Kaufman schien amüsiert.
»Wollen Sie mir die Tarotkarten legen?«
Als Thal auf diese Frage nicht antwortete, sondern weiter konzentriert die Karten ausbreitete, richtete sich Kaufman in seinem Stuhl auf und stützte die Arme auf den Tisch.
»Oder haben Sie da etwa noch weitere unbekannte Werke von Leah?«
Thal hatte alle Fotos verteilt. Auf dem Tisch vor Kaufmann lagen vier Reihen mit jeweils sechs Bildern.
»Es gibt noch viele Bilder von Leah, und sie werden bald öffentlich zu sehen sein. Diese Fotos zeigen ein anderes Werk. Mich interessiert, ob Sie eine Idee haben, wer es geschaffen haben könnte.«
Kaufman begann, die Fotos aufzudecken. Als er das dritte umgedreht hatte, murmelte er:
»Eine schöne Frau.«
Anschließend blickte er auf. Thal bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, weiterzumachen.
Die ersten beiden Reihen drehte Kaufmann konzentriert um und betrachtete jedes Foto eingehend.
Als er zu den Bildern von Claudia Pech kam, wurden seine Bewegungen schneller. Er drehte Foto für Foto um, ohne sich jedes einzelne intensiv anzuschauen. Sein Atem wurde hektischer, man hörte geradezu, dass ihn der Anblick der Frauen mental quälte. Als er die Fotos von Catrin Scheffel in die Hand nahm, zitterten seine Hände. Es gelang ihm kaum noch, die Bilder in einer halbwegs geraden Reihe zurück auf den Tisch zu legen. Thal hatte selten einen Menschen gesehen, dem das Entsetzen derart ins Gesicht geschrieben stand.
»Mein Gott«, stammelte Jason Kaufman, »was für ein krankes Hirn denkt sich so etwas aus?«
Dabei starrte er auf die Fotos.
Thal schob die Bilder mit wenigen Handbewegungen zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.
»Möchten Sie etwas trinken, Jason?«
»Einen Whiskey. Doppelt und auf Eis.«
Thal winkte der Kellnerin und gab die Bestellung auf. Die beiden Männer schwiegen, bis Kaufman den ersten Schluck getrunken hatte. Die Pause hatte ihm sichtlich gutgetan, die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Oder war es die Wirkung des Alkohols?
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