Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
zu verbinden
und die Freunde seines Großvaters näher kennenzulernen, in der Hoffnung, etwas
über sich selbst zu erfahren. Sie waren die einzig verbliebenen Verbindungen in
seine Familiengeschichte.
Er holte seinen Mantel, verschloss das Haus und machte sich auf
den Weg in die Fußgängerzone. Zuerst wollte er der Galerie einen Besuch
abstatten, sie lag ja direkt auf dem Weg zur Zeitungsredaktion.
Der Laden wirkte relativ unspektakulär, wie er da in der engen
Gasse zur Großen Straße lag, abseits vom Urlauberstrom, der sich im Sommer
durch die Fußgängerzone wälzte. Ohne den kleinen Reiter mit dem Poster eines
Malers, dessen Bilder hier ausgestellt waren, hätte Leander ihn glatt
übersehen. Zwei kleine Fenster rahmten eine typische blaue Friesentür ein,
deren Öffnen ein helles Klingeln irgendwo im hinteren Wohnbereich des Hauses
auslöste.
Leander trat ein und schaute sich in dem langgestreckten
Ausstellungsraum um, der außer weißen Wänden mit ein paar Bildern nichts zu
bieten schien – aber was hatte Leander in einer Galerie auch anderes erwartet?
Die Motive waren durchweg gleichartig: Der Hintergrund eines jeden Bildes
bestand aus einer gedruckten alten Seekarte, auf die Schiffe, Wracks,
Leuchttürme und andere Küstenmotive gezeichnet waren – Massenware für
Inseltouristen. Eines der Bilder gefiel Leander allerdings. Es zeigte die Wesermündung
mit dem dort verankerten Feuerschiff und dem alten Leuchtfeuer Roter Sand mit seinen charakteristischen Erkern und Türmchen. Auch hier wieder Tradition
und Geschichte, wohin man sah. Den Namenszug des Malers konnte er nicht
entziffern, und auf dem Reiter vor der Tür hatte er nicht darauf geachtet.
»Gefällt Ihnen Hindelang, Herr Kommissar?«, riss ihn die Stimme
einer jungen Frau aus seinen Betrachtungen, und als Leander sich umdrehte,
stand eine etwa dreißig-bis fünfunddreißigjährige Frau mit langen braunen
Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, direkt hinter ihm.
Sie hatte den Raum unbemerkt und leise betreten, offenbar von einem der
angrenzenden Räume im hinteren Bereich aus. Leander sah sie erstaunt an.
»Sie wundern sich, dass ich weiß, wer Sie sind, Herr Leander«,
stellte sie lächelnd fest. »Wir sind hier auf einer Insel, das sollten Sie
niemals vergessen. Eiken Jörgensen.«
Sie reichte Leander die Hand und dieser staunte, wie hart sie
zufasste, als er ihr seine gab.
»Henning Leander«, reagierte er unsinnigerweise.
»Ich nehme an, Sie sind nicht wegen unseres großen Künstlers
hier«, stellte Eiken Jörgensen fest. »Obwohl Götz Hindelang ein interessanter
Maler ist. Lassen Sie sich von den Motiven hier nicht täuschen.«
»Ich möchte gerne Ihren Großvater sprechen, wenn das möglich
ist.«
»Ich hole ihn. Mein Beileid übrigens, Ihr Großvater war ein
wunderbarer Mensch.«
»Danke, den Eindruck hatte ich auch«, entgegnete Leander und
drehte sich wieder zu den Bildern um, als Eiken Jörgensen sich leise entfernte.
Er nahm kaum etwas wahr von dem, was er sah, weil ein Gefühl
von ihm Besitz ergriff, das er immer hatte, wenn er eine Todesnachricht
überbringen musste. Es war, als schnüre ein Eisenband seinen Magen zusammen.
Das wurde er nie los, da gab es für ihn keine professionelle Distanz. Auch
jetzt nicht, obwohl es ja eigentlich sein Großvater war, der verstorben war.
Aber was war seine kurze Verwandtschaft gegen die alte Freundschaft, die
Hinnerk mit Wilhelm Jörgensen verbunden hatte?
Er hörte schlurfende Schritte und das schwere Schnaufen eines
alten Mannes hinter sich, und als er sich umdrehte, kam ein kleiner, knittriger
Greis mit schleifenden Schritten auf ihn zu, schwer auf einen Stock gestützt.
»Sie sind also Hinnerks Enkel«, stellte er fest und reichte dem
Kommissar die knorrige, kraftlose Rechte, die sich zerbrechlich wie dürres
Geäst anfühlte. »Kommen Sie!«
Er drehte sich um und schlurfte zurück in einen angrenzenden
Raum, in dem ein Küchentisch mit vier Stühlen stand. An der Wand waren Regale
mit Aktenordnern angebracht.
»Eiken hat Tee gekocht. Sie trinken doch Tee? Nehmen Sie
Platz.«
Der alte Mann ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl am Fenster
nieder und blickte in den kleinen Garten hinaus. Seine Enkelin stellte Leander
eine Tasse hin und schenkte Tee ein. Dann fügte sie mit einem kleinen
kreisrunden Löffelchen am Rand der Tasse den Rahm hinzu, der sich wolkengleich
in der schwarzen Flüssigkeit ausbreitete.
»Werden Sie Hinnerks Haus verkaufen?«, fragte
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