Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Reinen war,
musste er versuchen, den Kontakt wiederherzustellen, sonst würden seine Kinder
genauso an ihm vorbeileben, wie sein Vater und sein Großvater es getan hatten,
und das galt es unbedingt zu verhindern.
Jetzt verspürte Leander zwar noch weniger Lust, sich mit
anderen Leuten zu befassen, noch dazu mit gänzlich fremden, aber die Freunde
seines Großvaters hatten ein Recht auf eine persönliche Ansprache, auch wenn
sie vermutlich längst informiert waren. Wer weiß, was für Spekulationen über
das Unglück auf der Insel in Umlauf sind und welche Rolle ich darin spiele,
dachte Leander. Der Gedanke verwandelte den Druck in der Magengegend in ein
Brennen – ein klares Warnsignal, denn Leander neigte in Stresssituationen zu
Magenschleimhautentzündungen. Er musste aufpassen, dass er die Dinge nicht zu
nah an sich heranließ, damit er emotional nicht wieder in die Defensive geriet.
Gerade jetzt war es wichtig, die Regie zu übernehmen.
Also ging er gleich nach dem Frühstück hinüber zu Frau Husen.
Die knorzige Dame hatte sich wieder hinter den Panzer ihrer Echsenfassade
zurückgezogen und machte nicht mehr den verletzlichen Eindruck des vergangenen
Abends. Sie bat Leander in die Wohnstube und bot ihm einen Tee an, den er
dankend ablehnte. Stattdessen fragte er gleich nach den Freunden seines
Großvaters.
»Ich sollte Kontakt zu ihnen aufnehmen. Schließlich sollen sie
vom Tod ihres Freundes nicht aus der Zeitung erfahren.«
Frau Husens Miene blieb völlig ohne Regung.
Leander räusperte sich und fuhr fort: »Können Sie mir also
Namen und Adressen geben?«
Frau Husen zog einen Zettel aus ihrer Schürzentasche und schob
ihn Leander hinüber.
»Ich habe mit Ihrer Frage gerechnet.«
Leander nahm den Zettel und las erstaunt mehrere Namen mit
kompletter Anschrift.
»Können Sie mir zu den einzelnen Namen etwas sagen?«, legte er
nach. »Ich bin gerne vorbereitet, um nicht Gefahr zu laufen, gleich in jedes
Fettnäpfchen zu treten.«
»Gut«, begann Frau Husen und taute bei dem Gedanken, dass ihre
Meinung gefragt war, etwas auf. »Der Erste auf der Liste, Wilhelm Jörgensen,
hat eine kleine Galerie in der Westerstraße. Das ist die Gasse, die die
Mittelstraße mit der Großen Straße verbindet. Er war Hinnerks engster Freund
und sollte als Erster informiert werden. Sie treffen ihn bestimmt in seinem
Laden an, da ist er eigentlich immer. Wilhelm ist ein bisschen eigenartig, also
wundern Sie sich nicht, wenn er Ihnen launisch oder unfreundlich begegnet.«
Das scheint überhaupt für viele Insulaner zu gelten, dachte
Leander, sagte aber lieber nichts dazu.
»Der Zweite, Ocko Hansen, ist Fotograf. Sein kleiner Laden
liegt am Sandwall und wird Ihnen mickrig vorkommen. Aber täuschen Sie sich
nicht, Ocko hat mit seinen Fotografien die Inselgeschichte der letzten achtzig
Jahre festgehalten. Und seine Sammlung alter Aufnahmen reicht bis in die
Anfänge der Fotografie zurück. Hinnerk, Ocko, Wilhelm und der Nächste auf der
Liste, Enno Jessen, waren ihr Leben lang ein eingeschworenes Gespann. Enno ist
Makler, Immobilien und so. Sein Büro ist auch am Sandwall.«
»Wie kommt es«, wunderte sich Leander, »dass vier so
unterschiedliche Männer so enge Freunde gewesen sind?«
»Sie sind alle ein Jahrgang und kennen sich seit ihren
Kindertagen. Und dann ist da noch …«, Johanna Husen zögerte einen Moment und
blickte Leander unsicher an. »Haben Sie das Foto gesehen? Das im Bücherregal in
der Wohnstube mit den fünf Männern in Uniform?«
Leander dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »Ich glaube,
da steht kein Foto, aber jetzt, da Sie es sagen, erinnere ich mich, dass im
Sommer viele Fotos im Wohnzimmer gestanden und gehangen haben. Deshalb kommt
mir der Raum jetzt auch so verändert vor, die Fotos sind weg.«
Frau Husen schaute ihn ungläubig an.
»Das hätte ich doch gemerkt«, sagte sie entrüstet.
»Was war denn an dem Foto so Besonderes?«, hakte Leander nach.
»Nun, die Aufnahme stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Die fünf
haben zusammen gedient.«
»Und das hat sie ihr Leben lang verbunden?«, zweifelte Leander.
Der Gedanke, dass die alten Kameraden am Stammtisch die großen Heldentaten des
letzten Krieges wiederauferstehen lassen hatten, jagte ihm einen Schauer über
den Rücken.
»Nicht nur, natürlich. Aber die fünf waren Helden, wussten Sie
das nicht?«
»Helden?« Leander dehnte das Wort, als wolle er alle Zweifel
der Welt an dem Bewusstsein ausdrücken, das sich hinter dem Begriff
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