Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
seiner
Ansicht nach verbarg.
»Helden, jawohl!«, konterte Johanna Husen erbost. »Die jungen
Männer haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, damals, als sie Juden aus ganz
Norddeutschland zur Flucht verholfen haben.«
»Ich denke, sie waren Soldaten«, fragte Leander nach, da ihm
Frau Husens Behauptung zu abenteuerlich vorkam.
»Am Anfang ja, aber dann war Ihr Großvater bis zum letzten
Kriegsjahr freigestellt, weil er als Fischer für die Versorgung der Bevölkerung
gebraucht wurde. In der Zeit hat er mit seinem Kutter nachts Flüchtlinge auf
offener See an dänische Fluchthelfer übergeben. Die haben dann über ihre
Verbindungen dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge nach England kamen. Seine
Freunde haben auf Sylt gedient und dafür gesorgt, dass er rechtzeitig erfuhr,
wenn Patrouillenfahrten im Wattenmeer zwischen den Inseln geplant waren. Im
letzten Kriegsjahr musste Hinnerk dann als Soldat die Versorgung der Einheit
auf Sylt übernehmen. Von da an haben er und seine Freunde die jüdischen
Flüchtlinge hier auf der Insel versteckt, bis sie sie sicher nach Dänemark
schaffen konnten.«
»Sie sagten eben, es seien fünf Männer gewesen – mein
Großvater, Ocko Hansen, Wilhelm Jörgensen, Enno Jessen – wer ist der Fünfte?
Auf dem Zettel fehlt sein Name.«
»Claus Petersen«, antwortete
Johanna Husen widerstrebend. »Aber der gehört schon lange nicht mehr zu den
engen Freunden Ihres Großvaters. Claus war Rechtsanwalt und Notar, der Vater
von Hauke Petersen, der Hinnerks Testament verwaltet. Die anderen vier waren
ihm nicht fein genug, jedenfalls hat er sich sehr schnell abgesetzt, als es mit
ihm nach dem Krieg bergauf ging. Er war ja auch der Reichste von ihnen, da hat
man schnell mit anderen Leuten zu tun und macht sich nicht mehr mit Fischern,
Fotografen und kleinen Galeristen gemein. Kontakt hat er wohl nur noch zu Enno
Jessen, der als Makler ebenfalls reich geworden ist.«
»Sagen Sie, Frau Husen«, begann Leander vorsichtig das heikelste
Thema, das ihn beschäftigte. »Kann es sein, dass mein Großvater krank war?
Schwer krank, meine ich.«
»Unsinn!«, entgegnete Frau Husen barsch. »Wie kommen Sie denn
darauf?«
»Die beiden Kommissare aus Flensburg suchen nach einem Grund
für Selbstmord.«
Frau Husen richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und
schnaubte entrüstet: »Hinnerk hat nie im Leben Selbstmord begangen! Das habe
ich Ihnen schon gestern gesagt!«
»Können Sie mir bitte die Adresse seines Hausarztes geben?
Vielleicht gibt es ja doch etwas, das er niemandem sagen konnte oder wollte.«
Frau Husen nahm widerwillig den Zettel mit den Adressen und
fügte eine weitere hinzu. Dann erhob sie sich abrupt aus ihrem Sessel.
»So, jetzt muss ich weitermachen«, erklärte sie. »Die Namen
haben Sie ja nun.«
»Eine Frage noch, Frau Husen«, entgegnete Leander, als er sich
ebenfalls erhob. »Wo könnte mein Großvater wichtige Unterlagen aufbewahrt
haben, Urkunden und so etwas? Ich muss einige Papiere zur Testamentseröffnung
mitbringen.«
Frau Husen überlegte kurz.
»Entweder im Wohnzimmerschrank oder im Keller«, antwortete sie
schließlich.
»Keller?«, wunderte sich Leander. »Ich habe keine Kellertreppe
gesehen.«
»Ich komme heute Abend hinüber«, versprach Frau Husen. »Dann
zeige ich Ihnen den Zugang zum Keller.«
Sie hatte es plötzlich sehr eilig, Leander loszuwerden, und ehe
er es sich versah, stand er auf der Straße vor ihrem Haus.
Merkwürdig, dachte Leander.
Zuerst hatte er gar keinen Großvater, dann einen lange verheimlichten,
schließlich einen toten, und jetzt sollte der auch noch ein Held gewesen
sein – noch dazu einer, der Juden vor den Nazis gerettet hatte. Warum
hatte sein Vater ihm dann nie davon erzählt? Schließlich war er Historiker
gewesen und ein Fachmann vor allem auf dem Gebiet des Dritten Reiches. Er hatte
sich mit dem Widerstand beschäftigt und hätte einen Widerstandskämpfer in der
eigenen Familie zumindest verehren, wenn nicht gar feiern müssen, auf gar
keinen Fall aber meiden und verheimlichen.
Leander fühlte einmal mehr, wie unvollständig man war, wenn man
keine Geschichte hatte – oder besser, wenn man eine hatte, die man nicht
kannte. Die Gegenwart und die Zukunft hatten keine Basis, konnten nicht gezielt
geplant, gemessen und verglichen werden. Es fehlten grundsätzliche
Gewissheiten, und in diesem Moment war ihm klar wie niemals zuvor, warum er
selbst so halt-und orientierungslos war.
Leander beschloss, das Lästige mit dem Nützlichen
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