Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Stattdessen stieg er die Treppe hinauf und ging ins Bad.
Zehn Minuten später huschte er bereits unter seine Bettdecke,
die er bis zum Kinn hinaufzog. Noch bevor er die Frage zu Ende denken konnte,
ob er noch eine halbe Stunde lesen sollte, glitten ihm bereits die Augen zu,
und er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
5
Samstag, 20. Dezember
Am nächsten Morgen erwachte Leander auf sehr mühsame Weise.
Im Übergang zwischen Traum und Erwachen blendete ihn ein grelles Licht, das
schmerzhaft in seinen Augen brannte und lange Zeit verhinderte, dass er sie
öffnen konnte. Erst allmählich gelang es ihm, sich von seinem Traum zu lösen
und in die Wirklichkeit zu finden. Als er schließlich die Augen aufschlug,
stellte er den Grund für diese Qual fest: Sein Zimmer war taghell, da er am
Abend vergessen hatte, die Fensterläden zu schließen. Daran würde er sich erst
noch gewöhnen müssen.
Beim Frühstück überlegte er, was nun alles zu tun sei. Die
rechtlichen Formalitäten würde der Notar regeln, dafür musste er noch die
nötigen Unterlagen suchen und zusammenstellen, denn bei seiner
Klamotten-Umräumaktion hatte er nichts gefunden. Außerdem hatte sein Großvater
sicher Freunde gehabt, die es zu benachrichtigen galt. Leander nahm sich vor,
das gleich nach dem Frühstück zu erledigen. Die Namen und Adressen würde ihm
Frau Husen geben können, zumal er ja auch die des Arztes von ihr erfragen
wollte. Schließlich musste er eine Todesanzeige aufgeben, um den Rest der Insel
zu informieren, wenngleich die Mundpropaganda das sicher längst erledigt hatte.
Aber in solchen Lebenssituationen galt es nun mal, die Form zu wahren und
Rituale abzuarbeiten.
Auch Inka und die Kinder sollte er benachrichtigen, obwohl sie
den alten Mann nicht gekannt hatten; aber verwandt waren sie ja trotzdem mit
ihm gewesen. Das war sicher der schnellste Akt, er musste nur zum Telefon greifen.
Und da es für ihn der mit Abstand unangenehmste Teil seiner Verpflichtungen
war, wollte er ihn lieber sofort erledigen. Er schaute auf die Uhr: 9.25 Uhr.
Inka war Lehrerin, und gerade war große Pause. Die einzige Chance, sie am
Vormittag zu erreichen.
Leander griff also zum Telefonhörer, wählte die Nummer der
Dienststelle seiner Frau und ließ sich von der Sekretärin ins Lehrerzimmer
verbinden. Inka war kurz darauf selbst am Telefon und wechselte von der
Dienststimme in einen noch unterkühlteren Tonfall, als sie hörte, wer am
Apparat war.
Leander unterrichtete sie in kurzen Sätzen über den Tod seines
Großvaters und verneinte schnell die Frage, ob Inka unbedingt zur Beerdigung
erscheinen müsse.
»Zunächst einmal muss die Leiche freigegeben werden, und wann
das sein wird, ist noch offen«, erklärte er. »Und dann weiß ich auch noch gar
nicht, was im Testament steht. Vielleicht ist die Beerdigung da ja geregelt,
Seebestattung oder so.«
»Du bleibst also noch länger auf der Insel?«, fragte Inka.
»Solange es nötig ist, ja. Vielleicht auch länger, ich weiß es
noch nicht, kommt drauf an, wie meine Suche hier jetzt verläuft.«
»Ach, ja, ich vergaß, du bist ja ständig auf der Suche nach dir
selbst. Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg. Uns brauchst du dazu ja nicht.
Und verschone mich bitte mit den Ergebnissen, sie interessieren mich nicht.«
»Inka, bitte«, versuchte Leander ein versöhnliches Wort, aber
seine Frau unterbrach ihn sofort.
»Ich muss in den Unterricht. Die Kinder informierst du ja wohl
selbst?«
Nachdem Leander das bejaht hatte, legte sie ohne einen Gruß
auf. Er versuchte reflexartig, sich einzureden, dass ihm Inkas Kälte nichts
ausmachte, aber der leichte Druck in der Magengegend belegte das Gegenteil.
Die Gespräche mit den Kindern verliefen ebenfalls sehr
unterkühlt, wenngleich nicht ganz so feindselig. Hanno, der in Hamburg kurz vor
seinem Anwaltsexamen stand, zeigte kein großes Interesse am Tod seines
Urgroßvaters. Zwar überlegte er kurz, ob er zur Beerdigung auf die Insel kommen
sollte, sagte dann aber entschieden ab. Pia, die in Kiel Meereskunde studierte,
überlegte gar nicht erst. Sie war schon immer die Resolutere von beiden
gewesen. Leander versprach ihnen, sich zu Weihnachten zu melden, die Resonanz
war jedoch in beiden Fällen zurückhaltend. Nachdem er den Hörer aufgelegt
hatte, dachte er darüber nach, wie schwer er seine Familie offenbar verletzt
hatte, ohne es zu bemerken, da er zu sehr mit sich und seinen Problemen
beschäftigt gewesen war. Wenn er irgendwann mit sich selbst im
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