Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
wusste, wer er war, während er selbst keine Menschenseele
kannte. Der Fluch der Provinz, dachte er.
»Also, zunächst die Todesanzeige«, übernahm die junge Frau
wieder die Regie, ohne es für nötig zu halten, sich ihrerseits vorzustellen.
»Wir haben hier einige Größen und Textvorlagen zur Auswahl.«
Sie schob Leander einen Ordner über den Schreibtisch. Der
zögerte einen Moment, so dass die junge Frau – Frau Nellie Niddessen, wie
Leander auf einem Schild lesen konnte, das unter dem Ordner gelegen hatte und
nun sichtbar wurde – hinzufügte: »Sie können natürlich auch einen eigenen Text formulieren,
nur an die Zeilenzahl sind Sie gebunden.«
Leander schob den Ordner ungeöffnet zurück.
»Nehmen Sie den Text, der hier am häufigsten gewählt wird. Und
mit der Größe wollen wir es nicht übertreiben, schließlich wird eh schon jeder
informiert sein.«
»Oh, nein«, empörte sich Nellie, »oh, nein, darum geht es ja
nun wirklich nicht. Die Leute sehen Ihre Annonce und sagen: Sieh da, der Herr
Leander, der hält seinem Großvater über den Tod hinaus die Ehre; oder sie
sagen: Das hat der arme Hinnerk nun wirklich nicht verdient, so eine ärmliche
Anzeige!«
»Also gut«, gab sich Leander geschlagen. »Wo ist denn Ihrer
Ansicht nach die Grenze zwischen ärmlich und ehrenhaft?«
»Also eine Viertelseite muss drin sein, Herr Leander.«
»Gut, sagen wir eine Achtelseite«, bestimmte Leander und fügte
schnell hinzu, als Nellie den Mund schon wieder empört aufriss: »Letztes Wort!
Und nun zum Abonnement.«
»Kein Problem, wir ändern nur den Namen von Heinrich auf
Henning. Lieferadresse bleibt Frau Husen.«
»Frau Husen? Wieso Frau Husen?«
»Na, Frau Husen liest die Zeitung immer zuerst. Reicht doch
auch, eine Zeitung für zwei Personen.«
Jetzt erst fiel Leander auf, dass er am Morgen tatsächlich gar
keine Zeitung vorgefunden hatte. Und nun wusste er auch, warum.
»Nichts da«, erklärte er bestimmt, »ich zahle das Abonnement,
also wird es auch zu mir geliefert. Frau Husen kann die Zeitung gerne haben,
aber erst, wenn ich sie gelesen habe.«
Nellie blickte ihn von schräg unten an, wagte aber nun nicht
mehr zu widersprechen. Leander zahlte die Annonce und gab für das Abonnement
seine Kieler Bankverbindung an, was bei Nellie ein erneutes Stirnrunzeln
hervorrief.
»Erste Ausgabe gratis«, erklärte sie kurzab und reichte Leander
die aktuelle Zeitung.
Der grüßte kurz und war froh, als er wieder in der Großen
Straße stand. Sein nächster Weg führte ihn zum Sandwall. Er hatte noch zwei
Pflichtbesuche zu absolvieren.
Ocko Hansen war ein kleines, dürres Männchen mit der
geschäftsmäßigen Unverbindlichkeit eines Mannes, der sein Leben lang mit
Kundschaft zu tun gehabt hatte. Alles an ihm wirkte vergilbt und papieren, ein
Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass sein kleiner Laden vollgestopft
war mit alten Schwarz-Weiß-Fotos und sepiafarbenen Aufnahmen aus der
Inselgeschichte. Die Menschen auf den Bildern waren überwiegend in ihre Fehringer
Trachten gekleidet, die noch heute zu Konfirmationsfeiern und Hochzeiten
getragen werden.
Dagegen wirkte Ocko Hansen
fast schon modern, wie er da hinter seiner dunkelbraunen Holztheke stand. Er
trug einen grauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer breiten dunkelgrauen
Krawatte. Einen Fotografen hatte sich Leander anders vorgestellt, eher so wie
die Polizeifotografen, die er kannte, oder wie die Naturfotografen, deren
Bilder er in Zeitschriften wie Geo bewundern konnte – in
ockerfarbener Weste mit vielen Taschen und mit einer khaki-oder tarnfarbenen
Hose, die ebenfalls über viele Staufächer verfügte. Aber Ocko Hansen fotografierte
schließlich Menschen und keine scheuen Tiere, da brauchte er sich auch nicht zu
tarnen.
Die Nachricht vom Tod seines alten Freundes Hinnerk nahm der
Fotograf ähnlich unverbindlich entgegen, zumal er Leander mitteilte, dass er
natürlich schon davon wisse, und drückte ihm sein Beileid aus wie einem Menschen,
der ihm schlichtweg egal war.
»Die Polizei wird kaum herausfinden können, ob es Selbstmord
oder ein Unfall war«, stellte Leander fest und beobachtete dabei genau das
Gesicht des alten Fotografen, aber da zeigte sich keine Regung. »Was glauben
Sie?«, schob er deshalb nach.
»Darüber zerbreche ich mir selbst ununterbrochen den Kopf«,
entgegnete der alte Mann mit undurchdringlicher Miene. »An einen Unfall kann,
an einen Selbstmord will ich nicht glauben. Allerdings war Hinnerk in
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