Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
letzter
Zeit sehr verschlossen. Er wirkte irgendwie depressiv.«
»Ich habe gehört, er sei im Gegenteil sogar sehr lebensfroh
gewesen, seit ich ihn im Sommer besucht habe«, widersprach Leander.
Ocko Hansen zuckte mit den Schultern. »Mein Eindruck war das
nicht. Auf mich wirkte er müde; ich will nicht sagen lebensmüde, aber irgendwie
am Ende.«
Sprach man so über einen seiner besten Freunde? Leander konnte
sich in diesem Moment kaum vorstellen, dass Hinnerk, Wilhelm Jörgensen und
dieser kalte Greis wirklich so eng befreundet gewesen sein sollten.
»Mein Großvater soll in letzter Zeit häufiger Streit mit Herrn
Jörgensen gehabt haben«, wagte er einen erneuten Vorstoß.
»Streit? Davon weiß ich nichts.«
»Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?«
Hansen schien zu überlegen. »Das ist schon eine Weile her.
Wissen Sie, in unserem Alter geht man abends nicht mehr so oft unter die Leute.
Wenn ich den ganzen Tag im Laden gestanden habe, bin ich froh, dass ich abends
die Beine hochlegen kann. Und Hinnerk ging es wohl genauso.«
Leander war klar, dass er hier keinen Schritt weiterkommen
würde. Er verabschiedete sich knapp und trat aus dem dunklen Laden wieder
hinaus auf den Sandwall.
Über dem Meer brach der
Dunst langsam auf, und die klare Wintersonne stocherte strahlenförmig in das
Watt. Eine Fähre, deren Namen Leander von hier aus nicht entziffern konnte,
steuerte vom Hafen kommend an Langeneß vorbei hinaus aufs Meer. Leander
verweilte so lange, bis er sehen konnte, dass sie nach Amrum und nicht nach
Dagebüll abdrehte.
Das Immobilienkontor Enno Jessen & Sohn lag am
Ende des Sandwalls und nahm mit seiner Tür und den beiden Schaukästen gerade
einmal die bescheidene Breite von sechs Metern ein. Als Leander jedoch eintrat,
stand er vor einer breiten Treppe, die hinauf in die erste Etage führte. Hier
unten war offensichtlich nur der Empfang, dessen Schreibtisch und Schränke in
strahlendem Weiß gehalten waren.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein junger Mann Leander
von einem der Schreibtische aus, indem er sich von seinem Drehstuhl erhob und
in der Aufwärtsbewegung sein Jackett zuknöpfte.
»Leander, ich hätte gerne Herrn Jessen senior gesprochen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Privat. Ich muss ihn über den Tod eines seiner Freunde
informieren.«
»Das tut mir leid«, erklärte der junge Mann verbindlich. »Herr
Jessen senior ist nur noch sehr selten im Büro. Sein Gesundheitszustand lässt
das nicht zu. Er hat das Tagesgeschäft schon vor Jahren seinem Sohn übergeben.
Wenn Sie möchten, melde ich Sie bei Herrn Jessen junior an.«
Leander überlegte einen Moment und nickte dann. Es konnte nicht
schaden, möglichst alle Verbindungen seines Großvaters kennenzulernen. Der
junge Mann griff zum Telefon, sprach kurz so leise, dass Leander kein Wort verstehen
konnte, legte dann auf und ging vor Leander auf die Treppe zu. In dem Moment
eilte bereits ein großer und sehr vital wirkender Mann im Alter von etwa
fünfundfünfzig Jahren die Stufen herab und steuerte, beide Hände offen gegen
Leander gerichtet, auf ihn zu.
»Herr Leander!«, rief er überschwänglich. »Was für eine Freude,
Sie endlich einmal selbst kennenzulernen. Ihr Herr Großvater hat in den letzten
Monaten von niemand anderem gesprochen als von seinem Enkel. Mein herzliches
Beileid übrigens.«
Leander wusste nicht, was ihm lieber war: die unterkühlte
Zurückhaltung des Fotografen oder die übertriebene Aufdringlichkeit des
Immobilienmaklers.
»Vielen Dank«, entgegnete er vorsichtig distanziert. »Sie haben
also in letzter Zeit häufiger Kontakt zu meinem Großvater gehabt?«
»Den besten, natürlich, schließlich waren er und mein Vater die
engsten Freunde. Entsprechend leidet mein Vater unter Hinnerks Tod
entsetzlich.«
»Ich verstehe. Dann ist es im Moment wohl nicht angebracht, mit
ihm über meinen Großvater zu sprechen.«
»Unmöglich, nein, im Moment zumindest. Das würde ihn überfordern,
zumal er ohnehin ein kranker Mann ist. Das Herz, wissen Sie, aber in dem Alter
ist das wohl normal. Ich werde ihm natürlich ausrichten, dass Sie hier waren.«
»Wenn Sie so engen Kontakt zu meinem Großvater hatten, ist
Ihnen dann in letzter Zeit aufgefallen, dass er depressiv war?«
»Depressiv? Ja, vielleicht, jetzt, da Sie es sagen. Wissen Sie,
alte Leute sind manchmal etwas wunderlich. Ihr Großvater war da keine Ausnahme.
Sie werden mir meine Offenheit nicht übelnehmen. Er war ein wunderbarer
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