Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
der alte Mann
unvermittelt.
»Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Leander. »Was hätte mein
Großvater denn gewollt?«
»Dass Sie hier leben – oder zumindest Ihren Urlaub hier
verbringen«, erklärte Wilhelm Jörgensen bestimmt und blickte ihn nun mit
kleinen hellwachen Augen an, als wollte er keine Regung in Leanders Gesicht
verpassen.
Du bist längst nicht so gebrechlich, wie du tust, dachte
Leander.
»Sie waren enge Freunde«, stellte er stattdessen fest. »Frau
Husen sagte mir, Sie seien sogar der beste Freund meines Großvaters gewesen.«
»Der beste Freund, ja«, murmelte Wilhelm Jörgensen und schaute
wieder hinaus in den Garten, als sehe er dort die Vergangenheit als Film
ablaufen.
»Haben Sie eine Ahnung, wie so ein Unfall passieren konnte?«,
fragte Leander.
»Unfall!«, schnaufte der alte Mann. »Das war kein Unfall!
Hinnerk war ein erfahrener Seemann, der läuft nicht einfach so im Sturm aus.
Der säuft auch nicht ab! Nicht Hinnerk!«
»Was ist dann passiert?«, hakte Leander nach, aber so
unvermittelt der Alte aufgebraust war, so plötzlich fiel er jetzt wieder in
sich zusammen.
»Warum?«, fragte er nun selbst. »Warum hat er das gemacht? Er
hätte doch zu mir kommen können, wenn er Sorgen hatte.«
»Sie glauben also, es war Selbstmord?«, fragte Leander und nahm
einen Schluck von dem heißen Tee.
Wilhelm Jörgensen antwortete nicht, er starrte wie abwesend aus
dem Fenster. Eiken Jörgensen berührte Leander leicht an der Schulter und
deutete mit dem Kopf hinüber in den Laden. Ohne eine Reaktion des alten Mannes
wahrzunehmen, erhob sich Leander und folgte ihr hinaus.
»Er steht unter Schock«, erklärte sie leise. »Er macht sich
Vorwürfe.«
»Weshalb?«
»Sie hatten in letzter Zeit immer wieder Streit. Ich weiß
nicht, worum es ging, aber etwas stand zwischen ihnen. Hinnerk wollte meinen
Großvater zu irgendetwas überreden und war ziemlich wütend darüber, dass er keinen
Erfolg hatte. Mit Ocko Hansen und Enno Jessen waren die beiden sogar regelrecht
über Kreuz, dabei sind sie ein Leben lang enge Freunde gewesen. Es muss etwas
Schwerwiegendes passiert sein, dass sie so aus dem Ruder gelaufen sind.«
»Und jetzt glaubt Ihr Großvater, Hinnerk habe sich wegen des
Streits das Leben genommen«, stellte Leander fest.
»Möglich wäre es doch, oder? Mein Großvater hat recht, wenn er
sagt, dass Hinnerk niemals ohne Not im Sturm ausgelaufen wäre.«
»Ich glaube nicht an Selbstmord«, erklärte Leander. »Wir waren
am nächsten Tag verabredet. Warum hat er nicht auf mich gewartet? Vielleicht
hätte ich ihm helfen können.«
»Er wusste, dass Sie kommen?«, fragte Eiken Jörgensen erstaunt.
»Dann war es nie und nimmer Selbstmord!«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Hinnerk war ein alter Mann. Er hat viele Jahre lang unter der
Trennung von Ihrem Vater gelitten. Weiß der Teufel, was zwischen ihnen stand.
Aber seit dem letzten Sommer, seit Ihrem Besuch, war er wie ausgewechselt. So
viel Elan und Kraft habe ich nie zuvor bei ihm erlebt. Wenn er wusste, dass Sie
kommen, dann hat er sich niemals aus dem Leben gestohlen.«
»Eiken!«, tönte die Stimme Wilhelm Jörgensens aus der Stube
herüber, gefolgt von einem heftigen Hustenanfall.
»Ich komme, Großvater!«, rief die junge Frau und reichte
Leander die Hand.
Dann eilte sie nach hinten. Leander verließ die Galerie und
trat hinaus in die Kälte des klaren Wintermorgens.
Er schlug den Mantelkragen hoch und wandte sich nach rechts
zur Großen Straße. Direkt gegenüber dem Gassenende lag das rote Backsteinhaus
des Inselboten mit seinen langen Fenstern, in denen die heutige Ausgabe
aushing. Bevor er dem nächsten Freund seines Großvaters begegnete, wollte
Leander sich eine Pause gönnen.
Er betrat die Geschäftsstelle und fand sich unmittelbar vor
einem Schreibtisch wieder. Die junge Frau dahinter tippte mit flinken Fingern
etwas in ihren Computer und rief ohne aufzusehen »Moin!« in Leanders Richtung.
»Moin!«, entgegnete er.
»Was kann ich für Sie tun?« Die junge Frau dachte gar nicht
daran, ihr Tippen zu unterbrechen.
»Zweierlei«, antwortete Leander. »Zunächst möchte ich eine
Todesanzeige aufgeben, und dann möchte ich das Abonnement meines Großvaters auf
mich übertragen.«
»Herr Leander, richtig?«, fragte die junge Frau und blickte ihn
nun an. »Mein herzliches Beileid. Ihr Herr Großvater war langjähriger Abonnent
bei uns.«
»Nun nicht mehr«, entgegnete Leander, den es langsam nervte,
dass hier jeder
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