Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Mensch,
der Beste, aber in letzter Zeit hatte er oft, wie soll ich sagen, so einen
melancholischen Zug.«
»Wie äußerte sich der?«
»Er zog sich zurück, war nicht mehr so unbefangen fröhlich wie
früher. Sie können mir glauben, mein Vater und seine Freunde haben alles getan,
um ihn aufzumuntern, aber auch sie sind alt und haben ihr Leben quasi hinter
sich.«
»Sie halten einen Selbstmord also für möglich?«
»Selbstmord?«, überlegte der Makler eine Spur zu lange. »Nun
ja, ein Unfall könnte es natürlich auch gewesen sein. So alte Leute
überschätzen sich gelegentlich. Sie wollen nicht einsehen, dass ihre Kräfte
sehr begrenzt sind. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede; mein Vater kann
ein ganz schöner Sturkopf sein, genau wie Ihr Großvater. Aber: De mortuis nihil
nisi bene, nicht wahr? Der alte Hinnerk war, wie gesagt, ein wunderbarer
Mensch. Der Beste!«
Leander hatte genug von den Superlativen und verabschiedete
sich knapp, da er bei diesem aalglatten Geschäftsmann ohnehin keinen Millimeter
weiterkommen würde.
»Herr Leander«, rief der Makler ihm in der Tür noch nach.
»Falls Sie das Haus Ihres Großvaters verkaufen wollen, bin ich Ihnen dabei
gerne behilflich.«
Er machte ein paar flinke Schritte und reichte Leander seine
Visitenkarte.
»Unter dieser Telefonnummer erreichen Sie mich, wenn ich für
Sie aktiv werden soll.«
Leander winkte kurz ab und sagte: »Ich glaube nicht, dass ich
es so bald verkaufen werde.«
Er drehte sich um und verließ grußlos den Laden.
Dann hörte er, wie die Tür hinter ihm zufiel. Als er wieder auf
dem Sandwall stand, wurde ihm bewusst, dass Jessen junior ihn nicht einmal bis
in sein Büro vorgelassen hatte. Und vorgestellt hatte er sich auch nicht. Ein
Blick auf die Visitenkarte verriet Leander, dass Jessen junior mit Vornamen
Geert hieß.
»Geert«, dachte Leander, »schlank und rank wie ein Weidenstab.
Und offensichtlich genauso biegsam.«
Er ließ den Blick über die Wasserfläche gleiten, die in der
gelben Wintersonne glitzerte, aber das nahm er kaum wahr, ebenso wie den kalten
Ostwind, der die Luft eisig machte. Stattdessen dachte Leander über die
unterschiedlichen Menschen nach, die er heute Morgen kennengelernt hatte.
Allein der Galerist war ihm sympathisch, denn der schien wirklich traurig über
den Tod seines Freundes zu sein. Die Fassade des Fotografen durchschaute er
nicht, und der Sohn des Immobilienmaklers war die Falschheit in Person.
Leander überlegte, ob er nun nach Hause gehen oder die Sonne
nutzen sollte, und entschied sich für Letzteres. Da fiel sein Blick auf das
Schild Bu-Bu . Spontan wandte er sich dem Buchladen zu.
Zunächst wurde Leanders Geduld von rücksichtslos drängelnden
Württembergern strapaziert, die sich um Postkartenständer und Kalenderregale
quetschten – oder waren es Badenser? Da sollte es ja gravierende Unterschiede
geben! – und deren Kommentare in Richtung aller anderen Buchladenbesucher in
ihrer partiellen Unverständlichkeit irgendwie bösartig klangen.
Leander bewunderte die Ausgeglichenheit und Multitasking-Fähigkeit
der dauergewellten Kassiererin, die gleichzeitig Ansichtskarten abkassierte,
Standorte nachgefragter Taschenbücher in rasendem Sprechtempo zielsicher
beschrieb und den Inhalt von Omis Friesenkochbuch referierte. Entweder
war sie professionell oder ignorant genug, auf jeden Fall meisterte sie eine
Endlosschleife, die Leander schon als unbeteiligten Beobachter maßlos
überforderte und das Rauschen in seinen Ohren bedrohlich steigerte.
Er schlängelte sich zum hinteren Bereich des Ladens durch, der
verglichen mit dem vorderen schier ausgestorben schien. Nur vor dem Regal mit
der Klassifizierung Kriminalromane studierte ein junger Mann die
Buchrücken, während sein etwa dreijähriges Töchterchen unablässig an seinem
rechten Hosenbein zog und langgezogen »Bilderbuch« quengelte.
»Ja, Schatzi, Papi kommt ja sofort«, redete der junge Vater
beruhigend auf das Kind ein, machte aber keine Anstalten, den Worten Taten
folgen zu lassen. »Such dir schon mal ein Bilderbuch aus.«
Aber die Kleine hatte offenbar keine Lust, alleine in die mit
bunten Sitzwürfeln ausgestattete Kinderecke zu gehen, und hörte erst auf zu
quengeln und zu zerren, als der Vater entnervt nachgab, das Buch, das er gerade
in der Hand hielt, wieder wegstellte und ihr folgte.
So sehen die ersten Siege im
Leben aus, dachte Leander, nahm den Platz des Vaters ein und überflog mit den
Augen die Buchrücken.
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