Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
die niedrige Decke ducken. Es war kalt hier und sehr feucht. Der Raum
war etwa drei mal drei Meter groß mit einer Höhe von etwa einem Meter fünfzig.
An den Wänden, die aus festgestampftem Lehm bestanden, befanden sich Regale mit
eingekochtem Obst und Gemüse. Die Gläser waren matt beschlagen. In der
hintersten Ecke stand eine Zarges -Kiste aus Stahl auf dem Lehmboden, wie
er sie von den Einsatzfahrzeugen der Polizei kannte.
»Hier ist etwas«, rief er zu Frau Husen hinauf, die vor der
Luke kniete und herabstarrte.
Leander stellte fest, dass die Kiste extrem schwer war, als er
sie nun unter das Loch zog. Er wuchtete sie mit Mühe auf seine Schulter und
machte sich an den steilen Aufstieg. Frau Husen fasste oben an einen Griff der
Kiste und zog sie unter Einsatz ihres ganzen Körpergewichts hinauf. Neben ihr
angelangt, atmete Leander zunächst einmal tief durch.
»Mist«, sagte er dann, »da hängt ein Vorhängeschloss vor dem
Riegel. Haben Sie eine Ahnung, wo der Schlüssel sein könnte?«
»Wenn die wichtigen Dokumente darin sind, wird Ihr Großvater
den Schlüssel bei sich getragen haben.«
»Und damit ist er entweder in Flensburg, oder er schlummert nun
auf dem Grund der Nordsee.«
»Moment«, wandte Frau Husen ein, »vielleicht habe ich ja einen
passenden an meinem Bund.«
Sie zog ihn aus ihrer Rocktasche und probierte die Schlüssel
nacheinander aus. Ein kleiner Sicherheitsschlüssel passte zwar in die
Aussparung, ließ sich aber nicht drehen. Schließlich fand sich der gesuchte
Schlüssel wirklich an dem Bund, und das Schloss sprang auf.
Leander öffnete den schweren
Deckel, der mit einer Gummidichtung versehen war, um den Inhalt vor eindringender
Nässe zu schützen, und erblickte einen Stapel von Ordnern.
»Die sehen Sie ja wohl besser alleine durch«, erklärte Frau
Husen. »Ich habe drüben noch genug zu tun.«
Als sie sich abwandte, um wieder hinüberzugehen, sagte Leander:
»Lassen Sie mir den Schlüssel bitte hier? Und auch die übrigen bis auf den für
die Haustür, falls es noch weitere Schlösser gibt, für die ich keine Schlüssel
habe.«
Frau Husen entfernte widerwillig den Hausschlüssel vom Bund und
reichte es Leander wortlos. Dann eilte sie hinaus und ließ die Haustür laut ins
Schloss fallen.
Leander wandte sich wieder
der Kiste zu und entnahm ihr einen Ringordner mit der schnörkeligen Aufschrift Henning .
Die Schrift war die eines alten Mannes, der sein Leben lang kaum mit
Schreibkram zu tun gehabt hatte, entsprechend langsam war offenbar die etwas
verlaufene Tinte mit einem Füllfederhalter aufgetragen worden. Außerdem ähnelte
sie immer noch stark dem Sütterlin, das man vor siebzig Jahren in der Schule
gelernt hatte. Leander stutzte. Wie kam sein Großvater dazu, einen Ordner
regelrecht für seinen Enkel in der Kiste bereitzulegen? Hatte er damit
gerechnet, dass Leander eines Tages alleine vor dem Nachlass stehen würde?
Konnte es vielleicht sogar sein, dass Hinnerk diese Vorkehrung erst kürzlich
getroffen hatte, weil er ahnte, dass ihm etwas zustoßen würde?
Leander schlug den Ordner auf und erblickte als Erstes den
notariell beurkundeten Kaufvertrag für das Haus. Hinnerk hatte es demnach am
11. November 1938 von einem Mann namens Wilhelm Raabe gekauft. Der Notar, der
den Kauf beurkundet hatte, hatte mit dem Namen Claus Petersen unterschrieben –
offenbar der Vater des Notars, der nun Hinnerks Nachlass verwaltete.
Es folgte die Heiratsurkunde von Heinrich und Wencke Leander,
geborene Rickmers, die demnach am 28. November 1938 getraut worden waren.
Offensichtlich hatte Hinnerk zunächst für ein gemeinsames Zuhause gesorgt, und
wenige Tage später hatten die beiden geheiratet.
Den Geburtsurkunden von Hinnerk und Wencke, die als Nächstes
folgten, entnahm Leander, dass sein Großvater zum Zeitpunkt der Hochzeit erst
einundzwanzig Jahre alt gewesen war, Wencke sogar erst achtzehn. Er musste die
Zustimmung ihrer Eltern eingeholt haben, denn damals war man ja erst mit
einundzwanzig Jahren volljährig gewesen – oder »großjährig«, wie das zu der
Zeit geheißen hatte.
Es folgte der Kaufvertrag für den Krabbenkutter, die Haffmöwe ,
ebenfalls von Wilhelm Raabe verkauft, und zwar genau wie das Haus am 11.
November 1938. Wieso kam Leander das Datum nur so vertraut vor?
Hinnerk musste bereits als junger Mann ein sehr strebsamer
Mensch gewesen sein, wenn er mit einundzwanzig Jahren ein Haus und einen
eigenen Kutter besessen hatte. Wieso hatte er sich dann für den Rest
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