Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
nun durch den eisigen Wind auf der
Strandpromenade auf den Rückweg zu machen. Seine Gelenke schmerzten in der
Kälte, und seine Muskeln verkrampften sich bei jedem Schritt noch mehr, so dass
er zu zittern begann. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und färbte
das Watt, das eisglitzernd zu seiner Rechten lag, zunächst gelb, dann orange
ein. Leander vergrub sich in seine dicke Jacke und stakste zurück in Richtung
Sandwall. Hinter den Panoramascheiben des Wellenbades schien sich nichts
geändert zu haben, außer dass der dampfende Whirlpool neben dem Wellenbecken
noch überfüllter war.
Der Sandwall war dicht bevölkert. Jetzt, da die Sonne über den
Horizont kippte und eine urgemütliche Stimmung in den Gassen zwischen den
Schaufenstern und der Weihnachtsbeleuchtung hinterließ, bummelten die
Touristen, die den Nachmittag in irgendwelchen Cafés zugebracht hatten und nun
auf die Abendbrotzeit warteten, durch die Fußgängerzone. Leander hatte mit
einem Mal Sehnsucht nach Lena und wäre jetzt gerne mit ihr zwischen den anderen
Urlaubern unbeschwert durch die Gassen des Inselstädtchens geschlendert.
Vielleicht würden die bevorstehenden Feiertage auch in ihre Beziehung ein
bisschen mehr Klarheit bringen.
Er bahnte sich seinen Weg durch die dichten Menschentrauben und
war froh, als er schließlich den Stadtturm am Ende der Mittelstraße erreicht
hatte. Hier schaute er auf den Zettel mit den Adressen, die Frau Husen ihm
notiert hatte. Der Arzt, ein gewisser Dr. Erlei, hatte seine Praxis in der
Gartenstraße, die nur wenige hundert Meter vor ihm hinter dem Kaufhaus von der
Boldixumer Straße abzweigte.
Als Leander gegen achtzehn Uhr den Empfangsraum betrat, war
kein anderer Patient mehr zu sehen. Die Sprechstundenhilfe nahm sein Anliegen
und seine Daten auf, wandte sich dann zu einer Tür neben dem Empfangstresen,
ging in das dahinter liegende Zimmer und kam kurz darauf wieder heraus. Mit
einem Handzeichen forderte sie Leander auf einzutreten.
Als er Dr. Erleis Sprechzimmer betrat, erhob sich hinter dem
Schreibtisch ein untersetztes Kerlchen mit Speckgesicht und Ziegenbart. Dieser
Arzt konnte keinem seiner Patienten Vorhaltungen wegen eines zu großen Bauchumfanges
oder eines zu hohen Cholesterin-Spiegels machen, wenn er ernst genommen werden
wollte.
Er drückte Leander die Hand und stellte die Standardfrage aller
Ärzte und Verkäufer: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin erkältet«, erklärte Leander. »Schnupfen und leichte
Halsschmerzen. Die Bronchien sind auch etwas belegt.«
Dr. Erlei schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an und
machte keine Anstalten, seinen neuen Patienten zu untersuchen.
»Sie kommen nicht wegen einer lächerlichen Erkältung, Herr
Kommissar, sondern wegen Ihres Großvaters.«
Leander blickte sich im Raum um, konnte aber keine
Kristallkugel oder anderes Wahrsagerzubehör entdecken.
»Sie wollen wissen, ob Ihr Großvater krank gewesen ist. Ich
kann Sie beruhigen, er war für sein Alter kerngesund. Ein Leben lang als
Fischer bei Wind und Wetter draußen auf dem Meer, viel körperliche Arbeit, das
zahlt sich im Alter aus. Die üblichen Zipperlein hat er schlicht akzeptiert.«
»Sie haben recht«, lenkte Leander ein. »Ich suche nach einem
Grund für seinen Tod. Eine schlimme Krankheit wäre ein solcher gewesen, auch
wenn ich Selbstmord eigentlich ausschließe.«
»Und womit?«, fragte Dr. Erlei schelmisch grinsend. »Mit Recht!
Niemals hätte der alte Herr Selbstmord begangen, niemals! Beantwortet das Ihre
Fragen hinreichend?«
Leander nickte und wandte sich zur Tür.
»Das habe ich auch den beiden Kommissaren aus Flensburg gesagt.
Die waren allerdings nicht sehr erfreut darüber. Hätten es gerne leichter
gehabt, die Herren Kriminalisten«, ergänzte der Arzt. »Und wegen Ihrer
Erkältung: Viel Bewegung an der frischen Seeluft, ein dicker Schal, ein Paar
dicke Strümpfe, ein warmer Mantel, vielleicht ein heißes Fußbad am Abend und
Sie werden sehen, in ein paar Tagen geht es Ihnen wieder gut. Was von alleine
kommt, das geht auch von alleine wieder.«
»Interessante Theorie«, antwortete Leander. »Ich nehme an,
Chemie verschreiben Sie grundsätzlich nicht.«
»Ich vertrete einen ganzheitlichen Ansatz, da ist kein Platz
für schlichte Symptom-Bekämpfung. Aber wenn Sie unbedingt etwas einnehmen
wollen, kaufen Sie sich in der Apotheke ein Fläschchen Umckaloabo. Das Extrakt
der Pelargonie kommt aus Südafrika und hilft hervorragend gegen Bronchitis und
andere
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