Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
den Kontakt wieder enger werden
zu lassen, sobald er Klarheit in seine eigene und damit auch ihre Geschichte
gebracht hatte.
Er ging zum Mittagessen in die Fußgängerzone. Der Vorteil eines
Touristenstädtchens wie Wyk ist, dass in der Saison fast alle Läden auch am
Sonntag geöffnet haben. Metzger Friedrichs in der Mittelstraße bot in seinem
Imbiss neben den üblichen Dickmachern auch Eintöpfe an, und ein Erbseneintopf
war genau in Leanders Sinne. Nach dem Essen schlenderte er zum Sandwall
hinunter und betrat die Mittelbrücke. Das Watt war jetzt weiß vereist, und die
ersten flachen Bruchstücke begannen sich als Schollen auf den Strand zu
schieben. Von der Mittelbrücke hingen weiße Eiszapfen hinab, die im Streulicht
der Wintersonne glitzerten. Überall am Strand schlitterten Kinder in dicken
Steppklamotten und Schneeanzügen über das Eis, Väter schossen Fotos in Serie
und Mütter genossen die Ruhe, da ihre Kinder und Männer beschäftigt waren.
Auf dem Weg zurück zur Promenade begegnete Leander den beiden
Gästen, die ihm im Haus der Landwirte so unangenehm aufgefallen waren.
Sie versperrten ihm den Weg und machten auch keinerlei Anstalten, ihn
freizugeben. Die Frau fütterte kreischende Lachmöwen, die in steil auf-und
niederschießenden Flügen über ihren Köpfen umherschossen und flügelschlagend
geradezu aufrecht in der Luft stehen blieben, mit Brot, während der Mann
schimpfte, sie solle das lassen, diese Viecher schissen einem doch nur auf den
Kopf. Dabei kaute er verbissen auf seinem Zigarrenstummel herum und verpestete
die Luft.
Die Frau hörte auf, die Möwen zu füttern, und schlug vor: »Lass
uns auch an den Strand gehen.«
Das quittierte der Mann nur mit einem aggressiven: »Damit ich
mir die Schuhe wieder mit Sand einsaue, oder was?«
Leander überkam das Gefühl, dass ein Mord in bestimmten Fällen
durchaus seine moralische Berechtigung haben konnte. Für diese Frau als
Gattenmörderin jedenfalls hätte er jedes Verständnis aufgebracht. Außerdem
fragte er sich, warum ein Mensch, der die Natur offenbar derart hasste,
überhaupt Urlaub auf einer Nordseeinsel machte.
Die beiden Urlauber drängten
sich an Leander vorbei und trotteten weiter auf die Mittelbrücke hinaus, sie
mit kummervoller Miene, er mit unbewegt verkniffenem Gesicht, so dass Leander
seinen Weg zur Promenade endlich fortsetzen konnte.
Er überlegte einen Moment, ob er zum Hafen gehen und
Hafenmeister Björnsen nach Neuigkeiten fragen sollte, aber er verwarf den
Gedanken gleich wieder, weil der Seebär sich wohl von sich aus gemeldet hätte,
wenn es etwas Neues gegeben hätte. Außerdem hatte er heute Nachmittag keine
Lust auf weitere Stinkstiefel. Stattdessen schlenderte er den Sandwall in der
Gegenrichtung entlang, suchte sich eine freie Bank in den parkähnlichen Anpflanzungen
vor dem Kurhaus und rief Lena an.
Sie freute sich merklich, seine Stimme zu hören, zumal er sich
Mühe gab und ihr versicherte, dass er ihr Kommen kaum erwarten könne. Lena
versprach, am vierundzwanzigsten Dezember nachmittags bei ihm zu sein. Sie hatte
Urlaub bis zum Jahreswechsel bekommen. Am zweiten Januar musste sie wieder im
Dienst sein.
Nach dem Gespräch ging es Leander deutlich besser. Er fühlte
sich freier und freute sich auf einmal auf die bevorstehenden Festtage.
Vielleicht hatte er bis dahin ja schon einiges mehr erfahren und konnte sich
ganz auf seine familiären Verpflichtungen einstellen. Er wollte sich dann ausschließlich
seiner Beziehungspflege widmen, denn der Gedanke daran, eines Tages so einsam
wie sein Großvater zu sein, machte ihm Angst.
Nun ging er in einem großen Bogen durch die Museumsstraße,
vorbei am Heimatmuseum, das zu dieser Jahreszeit bereits am frühen Nachmittag
geschlossen hatte, und durch die Mühlenstraße mit der wunderschönen Galerie-Windmühle
zurück nach Hause, um sich dort wieder der Kiste zu widmen.
Er legte Holz nach und holte den nächsten Ordner heraus, in dem
sein Großvater Zeitungsausschnitte gesammelt hatte. Zunächst handelte es sich
um Artikel aus mehreren überregionalen Zeitungen, die sich mit der Karriere seines
Sohnes, Bjarne Leander, befassten. Offensichtlich hatte Hinnerk Bjarnes Weg
akribisch verfolgt, denn Leander hatte den Eindruck, dass alle maßgeblichen
Veröffentlichungen seines Vaters und über seinen Vater vorhanden waren. Hinnerk
musste einen Pressedienst beauftragt haben, diese Artikel zusammenzutragen.
Dann tauchten die ersten Artikel über ihn selbst,
Weitere Kostenlose Bücher