Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Atemwegserkrankungen. Wenn Sie sich eingelebt haben und sich endlich
etwas Zeit für Ihre Gesundheit nehmen wollen, kommen Sie noch einmal zu mir.
Sie machen einen abgespannten Eindruck und die Farbe Ihrer Iris gefällt mir gar
nicht.«
Leander verließ mit einem kurzen Gruß die Praxis des
Ganzheitsapostels und trat wieder hinaus auf die Gartenstraße. Dieser Arzt
überschritt mit Sicherheit niemals sein Verschreibungs-Budget, im Gegenteil, er
bekam wahrscheinlich zum Ende jedes Quartals eine Sparsamkeitsprämie von den
Krankenkassen.
Als Leander die Tür seines Friesenhäuschens hinter sich in
Schloss geworfen hatte, war er froh, aus der eisigen Kälte heraus zu sein,
obwohl es auch hier im Haus nicht sonderlich warm war. Sein Weg führte ihn
zunächst in die Küche, wo er den Wasserkessel für einen Tee aufsetzte. Dann zog
er seinen Mantel aus und stieg hinauf ins Badezimmer, um sich ein Bad
einzulassen. Während das heiße Wasser dampfend in die kalte Wanne rauschte,
eilte er zurück ins Wohnzimmer, versorgte den Kamin mit Holz und entfachte ein
Feuer, um den Abend in einer warmen Stube verbringen zu können. Nun musste er
nur noch im Wrixumer Hof anrufen, bevor er das wieder vergaß.
Wenig später lag er bis zum Kinn im heißen Wasser, am
Wannenrand eine Tasse Tee mit einem Schuss Rum, den er im Vorratsraum entdeckt
hatte, in der Hand das Buch von der »schönen Mörderin«, und genoss die Wärme,
die sich in ihm ausbreitete und seine Muskeln regelrecht auftaute.
Die schöne Mörderin von Doris Gercke hatte, soviel war
ihm schon nach den ersten Seiten klar, zwei Handlungsstränge: Zunächst war da
die Mordhandlung – eine junge Frau aus einer der ehemaligen Sowjetrepubliken
wurde mit einem brutalen Mann zwangsverheiratet und tötete ihn. Ihre Flucht
führte sie nach Deutschland. In der Parallelhandlung wurde das Leben der
Hamburger Privatdetektivin Bella Block erzählt, einer ehemaligen Kommissarin
der Mordkommission, die diesen Mord als Notwehr betrachtete und die schöne
Mörderin vor dem Zugriff der Polizei zu beschützen versuchte. Dabei wurde sie
von zwei aktiven Polizisten unterstützt, die ebenfalls mit dem System gebrochen
hatten, obwohl sie ihm im Gegensatz zu Bella Block noch angehörten. Das
verstärkte Leanders Dilemma, zumal er in Kriminalromanen leicht dazu neigte,
sich mit den ermittelnden Kommissaren zu identifizieren, sofern die häufig viel
zu flach konstruierten und völlig unrealistisch ermittelnden Figuren ihm dies
ermöglichten. Aber Bella Block war anders, gar nicht flach und unrealistisch.
An ihr würde er zu knabbern haben. Fürwahr keine leichte Kost, da hatte Eiken
Jörgensen recht gehabt.
Einmal mehr beschlich den Kriminalhauptkommissar das Gefühl,
dass die Seiten von Recht und Unrecht heute nicht mehr so eindeutig zu verorten
waren, aber vielleicht waren sie das ja nie gewesen. Vielleicht hatte es
zusätzlich zu den Zwischentönen immer schon Recht und Unrecht zugleich gegeben,
antinomisch verknüpft. Vielleicht war die Einteilung der Welt in Gut und Böse,
in Richtig und Falsch nichts weiter als eine Illusion, die einzig den Zweck
hatte, die Menschen klein und ruhig zu halten, sie dem System gefügig zu
machen. Und dabei hatten Religion und Kirche ihre ganz eigenen Rollen und
Aufgaben.
Leander beneidete die Detektivin Bella Block wegen ihrer
Freiheit, ganz ihrem Gewissen zu folgen. Als Polizist hatte man es da außerhalb
eines Romans nicht so leicht, da waren die Grenzen eng gesteckt.
So wie mit der Mörderin ging es Leander mit dem Roman im
Allgemeinen. Er ärgerte sich darüber, dass ein Taschenbuch in der Lage war, ihn
derart zu verunsichern, ihn aus seiner eben noch gefühlten heilen Inselwelt in
die trostlose Kälte seines beruflichen Alltags hinabzuziehen. Und gleichzeitig
faszinierte ihn das Spiel mit juristisch eindeutigem Recht und moralisch
zweideutiger Gerechtigkeit und hielt ihn in seinem Bann, so dass er
weitergelesen hätte bis zum Schluss, wenn nicht das Badewasser allmählich
ausgekühlt wäre und Leander aus der Wanne getrieben hätte.
Er zog sich etwas Warmes an und ging hinunter in die Küche, um
sich ein paar Brote zu schmieren und seine Teetasse wieder aufzufüllen. So
versorgt wechselte er in die Wohnstube hinüber, die jetzt mollig warm war,
setzte sich in den Ohrensessel und fühlte Bella Block nach, deren marxistische
Prägung gepaart mit philosophischer Bildung ihn faszinierte und ihm die Welt
auf eine ihm bislang unbekannte Weise zu
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