Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Marsch nehmen und in das Dorf gelangen, das er etwa zwei oder drei
Kilometer entfernt ausmachte und dessen Kirchturm ihm so einladend zuzuwinken
schien, wie er es einem Kirchturm zuvor niemals zugetraut hatte.
Das Watt wich nun vor einem immer breiter werdenden Streifen
aus Salzwiesen zurück, der von schmalen Gräben mit lehmigen Abbruchkanten
zerfurcht war. Hier mussten die Brutgebiete der Seevögel beginnen, die Eiken
Jörgensen zu überwachen hatte – und richtig, in wenigen hundert Metern
Entfernung erkannte Leander am Fuße des Deiches endlich den grünen Bauwagen der
Schutzstation Wattenmeer, der sich wie eine Nissenhütte an den Hang zu
schmiegen schien. Eine dünne Rauchfahne stieg aus dem schlanken Rohr, das durch
das halbrunde Dach des Wagens brach. Das ließ hoffen, dass Eiken Jörgensen
wirklich da war.
Leander legte die letzte Strecke mit schlotternden Beinen und
klappernden Zähnen zurück. Seine Rückenmuskulatur hatte sich so schmerzhaft
verkrampft, dass er regelrecht unter Schüttelfrost litt. Das Ziehen der
verkürzten Muskelstränge im Nacken sorgte für Kopfschmerzen, bei jeder Bewegung
knirschten sie gefährlich, als wollten sie gleich reißen. Mit stechend
schmerzenden Fingern klopfte Leander schließlich an die Tür des Infowagens und
atmete erleichtert auf, als er von drinnen Schritte vernahm und die Tür
Sekunden später nach außen aufgestoßen wurde. Eiken Jörgensens Gesicht erschien
drei Stufen über Leander, zuerst erstaunt, dann mit einem erschrockenen
Ausdruck.
»Mein Gott, sind Sie verrückt, bei dem Wetter so weit über den
Deich zu laufen?«, rief sie und machte ihm schnell den Weg ins Innere des
Wagens frei.
»Lassen Sie mich antworten, wenn mein Hirn aufgetaut ist«,
antwortete Leander mit klappernden Zähnen. »Mein Urteil könnte sonst zu hart
gegen mich selbst ausfallen.«
Er steuerte direkt auf den Ofen zu, der am hinteren Ende des
Wagens an der Stirnseite verankert war und eine stickige Hitze ausströmte, die
Leander in diesem Moment gegen nichts in der Welt eingetauscht hätte. Auf einem
Stuhl davor ließ er sich nieder und hielt die erfrorenen Hände nah an den Ofen.
Sofort schoss der stechende Schmerz wieder durch seine Fingergelenke und
schwoll zu einem Dauerbrennen an. Eiken Jörgensen schloss die Tür und setzte
sich auf einen Stuhl neben ihn.
»Man unterschätzt den Wind«, erklärte sie. »Der
Windchill-Effekt kühlt einen schneller aus, als man denkt. Vor allem auf dem
Deich ist man ja völlig ungeschützt.«
Die Wärme kroch Leander durch die Glieder und bewegte sich
langsam aufwärts.
»Haben Sie etwas Heißes zu trinken?«, fragte er, als er seine
Stimme wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.
»Natürlich, warten Sie, ich habe mir vorhin eine Kanne Tee
gekocht.«
Sie angelte eine Tasse und eine Thermoskanne heran, ohne
aufzustehen, und goss ihm ein.
»Milch habe ich leider nicht mehr.«
»Macht nichts, Hauptsache heiß.«
Leander umklammerte die Tasse und schlürfte vorsichtig von dem
Tee. Es dauerte nicht lange, und er konnte den Mantel ausziehen und Mütze und
Schal beiseite legen.
»Meine Güte, war das kalt«, stöhnte er und schüttelte den Kopf,
als könne er das Erlebte nicht fassen. »Ich habe mich immer gefragt, wie es
kommt, dass in einem reichen Land wie Deutschland im Winter Menschen erfrieren.
Ich glaube, wenn Sie jetzt nicht hier wären, hätte ich die Erfrorenen-Statistik
um eine weitere Person bereichert.«
»Sag ich ja, der reine Leichtsinn, bei so einer Eiseskälte bis
hier rauszulaufen. Und Sie haben wirklich Glück gehabt. Wenn ich hier nicht
liegengebliebenen Schreibkram zu erledigen gehabt hätte, wäre ich heute zu
Hause geblieben.«
Sie deutete auf einen schmalen Tisch, auf dem offene Ordner und
lose Listen lagen. Erst jetzt war Leander in der Lage, den Raum zu erfassen.
Der Tisch stand unter einem Doppelflügelfenster, das zum Watt zeigte und auf
dessen Innenseite sich Eisblumen gebildet hatten. Auf der gegenüberliegenden
Seite befand sich eine schmale Pritsche, neben dem Fenster waren links und
rechts Regale angebracht. Insgesamt bot der Bauwagen trotz der geringen Fläche
erstaunlich viel Platz und wirkte geradezu wohnlich.
»Im Sommer stellen wir draußen Infotafeln auf oder hängen sie
an die Außenwände. Sie glauben gar nicht, wie viele Wanderer und Radfahrer dann
hier draußen Vögel beobachten und sich über unsere Arbeit informieren. Dann
sind auch immer noch ein oder zwei Bufdis hier, alleine wäre das alles
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