Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
zogen, die einzelnen
Seile des Netzes, über die man leicht stolperte, in denen man sich verfing,
wenn man sich nicht auskannte.
Und das bedeutete, dass er sich über die Beziehungen der Männer
informieren musste, und zwar bei jemandem, dem er vertraute. Nur, wer konnte
das sein? Die spröde Frau Husen sicher nicht, zu der hatte er noch keinen
Zugang gefunden, und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Da fiel ihm nur
Eiken Jörgensen ein. Natürlich, sie kannte alles und jeden hier. Ihr eigener
Großvater war ja einer der Freunde Hinnerks gewesen.
Aber reichten die kurzen Begegnungen in der Galerie und im
Buchladen aus, um ihr zu vertrauen? Leander wunderte sich über sein schnelles
Urteil über einen Menschen, den er überhaupt nicht kannte. Die junge Frau war
Insulanerin wie Petersen. Sie war hier aufgewachsen und möglicherweise genauso
im Filz verbandelt wie alle anderen. Und doch musste Leander irgendwo anfangen,
und sein Instinkt sagte ihm, dass Eiken Jörgensen da die richtige Adresse war.
Außerdem hatte er in Wahrheit kaum eine andere Wahl.
Er beschloss, gleich nach dem Essen einen ausgiebigen
Verdauungsspaziergang zu machen – über den Deich zum Infowagen der
Schutzstation, in der Hoffnung, Eiken Jörgensen dort anzutreffen.
8
Der Zugang zum Deich lag hinter dem inneren Hafenbecken.
Leander marschierte mit weit ausgreifenden Schritten links um das Becken herum
und gelangte in Höhe des außen liegenden Jachthafens auf den Deich. Auf der
Deichkrone packte ein heftiger, eisiger Wind nach ihm und schnitt schmerzhaft
in seine Gesichtshaut. Die Kälte fräste sich durch seine Kleidung und kühlte
ihn in kürzester Zeit aus.
Leander schlug den Kragen
hoch, kroch tief in seinen Mantel und zog eine Strickmütze aus der Tasche, wie
Fischer sie tragen oder Manfred Krug im Stöver- Tatort . Dann versenkte er
seine Hände tief in die Manteltaschen und stapfte mutig gegen den Wind an. Nach
einigen hundert Metern knickte der Deich nach links ab, so dass der Wind nun
von der Seite kam und nicht mehr ganz so unerträglich war. Leander passierte
die Kläranlage mit den beiden Windrädern, von denen sie ihre Energie bezog, und
konnte, wenn er nach rechts blickte, in der Ferne über dem Wattenmeer das
Festland erkennen, das als schmaler Streifen den Horizont bildete.
Zwischen Watt auf der rechten
und Marsch auf der linken Seite führte der Plattenweg auf der Deichkrone in
Windungen scheinbar bis in die Unendlichkeit. Der Deich wurde von der Marsch,
dem fruchtbaren Land, das überwiegend als Weidefläche genutzt wurde, durch ein
Tief getrennt, einer jener flussartigen Wasserläufe, die das Wasser durch die
Sieltore ins Meer hinaus transportierten und die Insel vor dem Absaufen
bewahrten. Wogende Reetflächen begrenzten den Wasserlauf, Möwen und Austernfischer
saßen geduckt in den Salzwiesen und schienen wie zu Eisskulpturen erstarrt.
Trotz einiger Schlenker wattwärts führte der Deich im Ganzen in
einem großen Bogen nach links. Der Plattenweg war in Abständen von einigen
hundert Metern von Zäunen unterbrochen, über die Tritthölzer führten. Als er
sich einigermaßen eingelaufen hatte, gewöhnte sich Leander allmählich an die
Kälte. Allein seine Bronchien brannten, als atme er schieres Eis ein.
Links des Deiches tauchte nun ein kleines eingezäuntes und
nahezu rund angelegtes Wäldchen auf, dessen Buschwerk trotz der Jahreszeit für
Leanders Augen undurchdringlich war. Direkt hinter dem Wäldchen führte schräg
eine Überfahrt auf den Deich und an der anderen Seite genauso schräg wieder
hinab bis auf einen befahrbaren Wirtschaftsweg am Deichfuß. Als Leander diesen
Überweg passiert hatte, nahm er die ersten Windräder vor sich wahr, die entlang
dem Deich wie übergroße Spargelstangen aufgereiht waren und deren Rotorblätter
sich lautlos und gleichmäßig im eisigen Wind drehten, der nun wieder direkt von
vorne kam und Leander den Atem vom Mund wegriss.
Er fühlte die Kälte von den Beinen her zum Oberkörper kriechen
und hoffte inständig, dass der Infowagen bald in Sicht kam und dass Eiken heute
Dienst hatte. Wie konnte er nur auf ein solches Risiko verfallen und bei minus
zwölf Grad auf gut Glück kilometerlange Deichwanderungen unternehmen? Warum
hatte er nicht wenigstens vorher auf der Karte nachgesehen, wie weit der Weg
war? Leander verfluchte sich für seinen Leichtsinn und war drauf und dran, den
Deich bis zu dem Wäldchen zurückzulaufen. Von dort aus konnte er den Feldweg
durch die
Weitere Kostenlose Bücher