Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
gar
nicht zu schaffen.«
»Ich hatte gehofft, Sie hier allein anzutreffen«, gestand
Leander. »Ich bin da auf einige Fragen gestoßen, die ich gerne mit Ihnen
besprechen würde. Aber zuerst habe ich einen Vorschlag zu machen: Haben Sie
etwas dagegen, wenn wir uns duzen? Immerhin haben Sie mir das Leben gerettet.«
»Das habe ich tatsächlich«, stimmte Eiken Jörgensen zu.
»Außerdem waren unsere Großväter gute Freunde, da lässt man sich erstens nicht
gegenseitig erfrieren, und zweitens duzt man sich natürlich.«
»Du hast meinen Großvater sehr gut gekannt, oder?«
»Nun ja, mein Großvater und Hinnerk waren ein Leben lang immer
füreinander da, und auf einer Insel kennt man sich natürlich wesentlich besser
als auf dem Festland in einer Großstadt.«
»Was war mein Großvater für ein Mensch?«
»Das weißt du doch«, entgegnete Eiken. »Du hast ihn doch
kennengelernt.«
»Nicht so genau wie du. Also, was kannst du mir über ihn
erzählen?«
»Schwer zu sagen, gerade wenn man ihn länger gekannt hat. In
vielerlei Hinsicht war er ein typischer nordfriesischer Insulaner, und dann
auch wieder nicht. Er konnte mitunter sehr stur und abweisend sein, vor allem
Fremden gegenüber, und dann war er wieder sehr freundlich und interessierte
sich für alles, was vom Festland kam. Aber insgesamt, glaube ich, hat er sich
auf seinem Kutter am wohlsten gefühlt, so allein da draußen auf dem Meer.«
»Geht das denn, alleine Krabben fischen?«, hakte Leander nach.
»Braucht man dazu keine Hilfe? Ich stelle mir das sehr schwer vor – mit den
Schleppnetzen und dem ganzen Zeug.«
»Früher hatte er natürlich eine Mannschaft, zwei Fischer aus
Nieblum, Jens Fedder und Klaas Rickmers. Aber er war ja schon seit Jahren im
Ruhestand, und das Boot war einfach eine Chance für ihn, da rauszukommen. Ums
Fischen ging es ihm gar nicht mehr. Immer nur an Land – nee, da wäre er glatt
vertrocknet. Jens und Klaas wollten ihm das Boot abkaufen, aber er hat es nicht
hergegeben. Die Haffmöwe hat mich ein Leben lang begleitet, hat er zu
meinem Großvater gesagt, die gebe ich erst ab, wenn ich tot bin. Tja, so ist
das ja nun auch gekommen.«
Eiken schaute schweigend und abwesend aus dem Fenster, als
blicke sie in längst vergangene Zeiten.
»Was hältst du von der Geschichte, dass mein Großvater leichtsinnig
im Sturm ausgelaufen sein soll?«, fragte Leander und holte sie so in die
Gegenwart zurück.
»Leichtsinnig war er nicht, der Hinnerk. Ist er nie gewesen.
Und seinen Kutter hätte er der Gefahr auch nicht so einfach ausgesetzt. Er hat
Stürme geradezu gerochen, wenn andere noch längst nichts geahnt haben. Und dann
ist er lieber einmal zu wenig ausgelaufen als einmal zu viel.«
»Du glaubst also auch nicht an einen Unfall. Hältst du
Selbstmord für wahrscheinlich?«
»Darüber zerbrechen sich hier alle den Kopf. Es stimmt schon,
er war in letzter Zeit sehr verschlossen. Vor allem mit seinen alten Freunden
wollte er nicht mehr reden. Mein Großvater hat mehrfach versucht zu vermitteln,
aber Hinnerk war vernagelt wie eine Heringskiste. Ich habe ihn auch einmal gefragt,
was los sei, aber er hat nur nachdenklich den Kopf gewiegt, geantwortet hat er
mir nicht.«
»Und wie haben seine Freunde darauf reagiert?«
»Zu Anfang haben sie alles versucht, zu dritt sind sie ihm auf
die Bude gerückt. Mein Großvater, Ocko Hansen und einmal sogar Enno Jessen,
seine besten Freunde halt. Die waren ja fast schon berüchtigt für ihre
Freundschaft. Da stand einer für den anderen, aber in letzter Zeit gab es irgendetwas
zwischen ihnen. Nur mit meinem Großvater hat Hinnerk noch geredet, und das
zuletzt auch nur im Streit.«
»Was sagt dein Großvater denn, jetzt, da Hinnerk nicht mehr
lebt?«
»Der ist wie paralysiert, kriegt kein Wort mehr heraus. Ich
denke manchmal, dass Hinnerks Tod ihn mit seiner eigenen Sterblichkeit
konfrontiert hat. In dem Alter wirkt ein offenes Grab manchmal wie ein Magnet.
Die Einschläge kommen im Alter immer näher, sagt man doch.«
Leander dachte einen Moment über das nach, was Eiken über
seinen Großvater erzählt hatte. So kamen sie offensichtlich nicht weiter. Er
musste die Sache von einer anderen Seite her aufziehen, von da, wo sich die
meisten offenen Fragen für ihn ergaben.
»Ich war heute bei dem Notar Petersen«, begann er deshalb
erneut. »Der Bursche kam mir reichlich merkwürdig vor.«
»Die Petersens sind arrogante, rücksichtslose Mistkerle, der
Vater wie der Sohn«, ereiferte sich Eiken.
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