Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
man da nicht auf Sie?«
»Jeder Mensch ist ersetzbar«, antwortete Leander unbestimmt.
»Außerdem kann ich mich für einige Zeit beurlauben lassen. Und meine familiären
Bindungen sind zur Zeit nicht so eng.«
»Wenn das so ist, können wir Sie vielleicht bei nächster
Gelegenheit bei einer unserer Feiern in unserem Haus in Utersum begrüßen? Mein
Vater wird erfreut sein, Sie kennenzulernen – wenn er sich wieder besser fühlt,
meine ich. Momentan ist er leider nicht dazu in der Lage.«
»Ich bekomme Besuch. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, melde
ich mich in den nächsten Tagen und sage Ihnen, ob ich Ihre Einladung annehme.«
Er machte zwei Schritte auf die Tür zu, drehte sich dann mit
gesenktem Blick und an die Stirn gelegtem rechtem Zeigefinger langsam wieder
um und sagte in Columbo-Manier: »Da fällt mir allerdings noch eine Frage ein.
Sie sagten, mein Großvater habe von den gegenseitigen Hilfestellungen hier auf
der Insel profitiert. Wie Ihr Vater ihm geholfen hat, haben Sie eindrucksvoll
geschildert, aber wie, bitte schön, konnte meine Großvater sich dafür revanchieren?
Sagen Sie nicht, in Ihrer Familie esse man gerne Fisch.«
Petersen lachte leicht gekünstelt auf und räusperte sich dann
eine Spur zu lange.
»Sie haben Humor, das gefällt mir. Aber was Ihre Frage angeht,
da bin ich leider überfragt. Vielleicht können Sie auch das gelegentlich mit
meinem Vater besprechen.«
Dann öffnete Petersen die Tür mit einem etwas zu schief
geratenen Lächeln, wünschte Leander eine gute Zeit auf der Insel und zog sich
schnell wieder in sein Büro zurück. Leander verabschiedete sich im Hinausgehen
bei den drei Sekretärinnen und war froh, als er wieder in der klaren, kalten
Winterluft vor der Mühle stand. Er zog den Mantel fest zu und schlug den Kragen
hoch. Auf dem Weg zum Tor blickte er sich noch einmal kurz um und sah den Notar
mit dem Cognacschwenker in der Hand am Fenster stehen und hinter ihm
herblicken.
Er verließ das Grundstück und wandte sich in Richtung
Sandwall, um dort in der Milchbar etwas zu essen und bei einem Glas Wein
seine Gedanken zu ordnen. So richtig begriffen hatte er bisher noch nicht, was
er alles geerbt hatte und welche Folgen dies für ihn haben konnte. Vor allem
die Tatsache, dass er seinen Großvater ja bis vor Kurzem gar nicht gekannt,
dieser ihn aber sofort nach ihrer ersten Begegnung als Universalerben
eingesetzt hatte, stellte Leander vor ein Rätsel. Zudem war er ein viel zu
routinierter Ermittler, um die Lücken und Unstimmigkeiten in Petersens
Erklärungsversuchen nicht bemerkt zu haben.
Er betrat die Milchbar ,
die in ihrem plüschigen Dämmerlicht jetzt im Winter die Heimeligkeit eines
Nachtclubs auf St. Pauli ausstrahlte, und setzte sich an einen Tisch in einer
Nische – der letzte, der frei war. Auf der Karte gab es eine unglaubliche
Auswahl an Milchreis in allen nur denkbaren und, wie Leander fand, auch nicht
denkbaren Obst-Kombinationen. Außerdem gab es jeden Tag einen anderen Eintopf,
aber da Leander bereits am Vortag einen solchen gegessen hatte, stürzte er sich
in das Milchreis-Wagnis und bestellte ihn mit Kirschen, Zimt und Ingwer. Dazu
wählte er den roten Hauswein.
Während des Essens, das nicht nur interessant, sondern richtig
gut schmeckte, dachte er über seinen Großvater nach. Da lebt jemand bescheiden
als Fischer auf einer Insel, rackert sich ein Leben lang auf seinem Kutter ab,
den er hegt wie seinen Augapfel, und dann besitzt er ein Vermögen und steuert
seinen geliebten Kutter bei Sturm in den Untergang. Und welcher Fischer verfügt
über reiche Freunde, die ihn an ihrem Wohlstand teilhaben lassen? Sollten hier
auf der Insel die Gesetze des Kapitals und der Habgier weniger gelten als auf
dem Festland? Leander glaubte das nicht. Hier wie dort suchte jeder nur seinen
eigenen Vorteil und verschenkte nichts, auch nicht aus alter Freundschaft.
Und dann die Reaktionen des Notars auf die Hausurkunde und auf
seine Andeutung, vielleicht auf der Insel bleiben zu wollen. Das passte alles
nicht zu dem Bild von der schönen Eintracht und der alten Verbundenheit zwischen
Petersen und Leanders Vater. An dieser Stelle musste Leander anknüpfen, das
wurde ihm nun klar, wenn er etwas über die wahren Hintergründe des Vermögens
seines Großvaters erfahren wollte. Dabei musste er jedoch behutsam vorgehen und
nicht zu forsch an den Gittern rütteln, um keine schlafenden Hunde zu wecken.
Er kannte die Linien noch nicht, die sich über diese Insel
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