Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
verwaltenden städtischen Angestellten passen wollte. Sie war nur
mäßig freundlich und führte ihn ohne viel Aufhebens zu den langen Regalreihen
des Archivs, genauer gesagt zu den Regalen mit der Aufschrift 1930 bis 1945 .
»Wir sind dabei, alles zu digitalisieren«, erklärte sie, »aber
so weit zurück sind wir noch nicht gekommen. Da werden Sie wohl Akten wälzen
müssen – bei der Gelegenheit könnten Sie eigentlich gleich abstauben.«
Der trockene Ton, in dem sie das gesagt hatte, ließ für Leander
die Frage offen, ob sie das ernst gemeint hatte, oder ob es ein Scherz gewesen
war.
»Neben der Tür hängt ein Telefon. Sagen Sie mir Bescheid, wenn
Sie fertig sind, ich grabe Sie dann wieder aus. Einfach die 23 wählen.«
Damit verschwand sie durch die Tür und zog diese hinter sich
zu.
Leander blickte sich in dem eigentlich großen Raum um, der aber
durch die endlosen Regalreihen bedrückend eng wirkte. An einer Seite in der
Nähe der Tür stand ein Tisch mit Schreibtischlampe und Bürostuhl. Ein Computer,
der noch relativ neu aussah, und ein Flachbettscanner komplettierten das
Ensemble. Leander sah in seiner Vorstellung ein mausgesichtiges Männchen mit
vorstehenden Schneidezähnen und grauer Strickjacke, das tagaus, tagein
verstaubte Akten zu dem Schreibtisch trug und mit Hilfe des Scanners Blatt für
Blatt in den Computer übertrug.
Eine Lebensaufgabe, dachte er. Und einen Hörsturz bekommt man
davon sicher nicht. Andererseits könnten die Langeweile und das eintönige
Surren des Scanners tödlich sein. Eines Tages würde man dann eine verstaubte
und erstarrt am Tisch sitzende Mumie in den Katakomben des Rathauses entdecken
und mit Hilfe der C14-Methode eine ungefähre Altersbestimmung vornehmen.
Angesichts dieser ohnehin in Archiven lauernden Gefahr ging
Leander lieber gleich an die Arbeit und beschloss, nicht nur nach der Familie
Raabe, sondern auch nach anderen jüdischen Familien zu suchen, die in der
fraglichen Zeit auf der Insel gemeldet gewesen waren. Er wandte sich zunächst
den Aktendeckeln ab 1935 zu und griff die ersten beiden, um sie am Tisch nach
jüdisch klingenden Namen oder der entsprechenden Religionsbezeichnung zu durchsuchen.
Diese Aufgabe gestaltete sich weniger schwierig, als Leander
befürchtet hatte. Zwar gab es gemeldete Personen, die einen auffällig bodenständigen
oder gegenständlichen Namen hatten, der auf eine jüdische
Religionszugehörigkeit schließen ließ, die aber schlicht protestantisch waren
wie die meisten Friesen. Und andere Namen, die auf den ersten Blick überhaupt
nicht jüdisch klangen, gehörten zu Menschen, die laut Meldekarte mosaischen
Glaubens waren, aber Letztere waren eben klar gekennzeichnet. Zum ersten Mal in
seinem Leben sah Leander Meldekarten, die einfach mit einem großen roten J
überstempelt worden waren. Er hatte zwar gewusst, dass die Nazis mit jüdischen
Pässen so verfahren waren, aber gesehen hatte er einen solchen bisher nicht. Er
musste sich eingestehen, dass er offenbar einem Vorurteil aufgesessen war, oder
zumindest einer zu simplen Weltsicht, wenn er geglaubt hatte, Juden hießen
grundsätzlich Rosenthal oder Goldstein.
In der ersten Kladde fand er einen Hans Mommsen, der am 13.
April 1935 von Husum nach Oldsum auf Föhr übergesiedelt war und am 7. Juni 1942
mit dem Vermerk unbekannt verzogen wieder ausgetragen worden war. Auf der
Karte einer Friederike Ellersen fand er dasselbe Abmeldedatum mit demselben
Vermerk. Auch sie hatte nur kurz auf der Insel gelebt, nachdem sie von
Flensburg aus übergesiedelt war.
In anderen Akten, die Leander nacheinander zum Tisch holte und
durchforstete, fand er Übereinstimmungen, aber auch andere Abmeldedaten,
teilweise mit dem Vermerk unbekannt verzogen , zum Teil mit dem Vermerk umgesiedelt .
Was Letzteres bedeutete, war Leander klar. Auffällig war dabei die
unterschiedliche Kennzeichnung. Unbekannt verzogen war offensichtlich
nicht mit umgesiedelt gleichzusetzen. Es bestand also die Hoffnung, dass
alle als unbekannt verzogen ausgetragenen Menschen nicht deportiert und
ermordet worden waren.
Leander legte sich eine Liste
an, auf der er Namen, Meldedatum, Abmeldedatum und Abmeldevermerk notierte.
Gern hätte er jetzt seinen Laptop zur Hand gehabt, um gleich eine saubere
Tabelle eintippen zu können. Bis 1945 fand er keine Familie Raabe, die als unbekannt
verzogen oder umgesiedelt ausgetragen worden wäre. Vorsichtshalber
untersuchte er noch einmal die Akte vom November 1938, aber auch dort war
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