Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
getrieben von der Hoffnung, sein
Verdacht möge sich als falsch erweisen. Er hatte gerade eine Akte aus dem Jahre
1897 vor sich, in der ein kaiserlicher Beamter Eintragungen in gestochenem
Sütterlin vorgenommen hatte, als die junge Frau den Raum betrat und fragte, ob
er nicht langsam Schluss machen wolle.
»Wie spät ist es denn?«, erkundigte sich Leander und rieb sich
die brennenden Augen.
»Halb fünf«, antwortete die Frau. »Dienstschluss!«
»Dienstschluss? Ach ja, ich vergesse immer, dass es so etwas
für Verwaltungsangestellte gibt. In meinem Bereich ist das ein Fremdwort.«
»Sind Sie denn fündig geworden?«
»Wie man es nimmt«, antwortete Leander und streckte seinen
schmerzenden Rücken. »Den Namen, den ich eigentlich gesucht habe, habe ich
nicht gefunden.«
»Vielleicht steht er in der fehlenden Akte«, vermutete die
junge Frau. »Oder die Familie ist vor so langer Zeit auf unsere Insel gezogen,
dass es noch gar keine Meldekarte gibt.«
»Fehlende Akte?«
»Ja, eine Akte aus dem Jahr 1938 ist zur Zeit verliehen.«
»Verliehen?«
»Sagen Sie mal, sind Sie ein Papagei oder ein Echo oder so
was?«
»Entschuldigung, ich versuche nur, Ihnen zu folgen. Sie haben
eine Akte aus dem Archiv verliehen? Kann man sich Meldeunterlagen ausleihen?«
»Eigentlich nicht«, antwortete die junge Frau verlegen, »aber
Herr Petersen ist Notar, und er hat keine Zeit, alle Nachforschungen hier vor
Ort anzustellen. Wenn er Angehörige eines Verstorbenen sucht, kommt es schon
mal vor, dass er sich Unterlagen in seine Kanzlei schicken lässt.«
»Das heißt, Herr Petersen muss sich nicht einmal herbemühen.«
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und die junge Frau nickte
verlegen; die Situation war ihr offenbar mehr als unangenehm.
»Bis zu welchem Jahr haben Sie die Daten denn schon digitalisiert?«,
erkundigte sich Leander in der Hoffnung, die fehlende Akte könnte sich bereits
im Computer befinden.
»Rückwirkend bis 1960«, war die Antwort. »Da hat dann unsere
EDV-Fachkraft gekündigt und zu einer Firma auf dem Festland gewechselt. Das
kommt häufiger vor, die Datenerfassung hier ist ja nicht gerade ein Traumjob. Außerdem
zahlt der Staat nicht so toll.«
»Das kenne ich«, stimmte
Leander zu und dachte an die zahllosen Angebote privater Sicherheitsfirmen, die
er schon bekommen hatte, und bei denen er das Doppelte seines Staatsgehaltes
hätte verdienen können. Er hatte auch mehr als einmal mit dem Gedanken
gespielt, ein solches Angebot anzunehmen, aber seine Erfahrungen mit den
Geschäftspraktiken solcher Firmen hatten ihn letztlich immer dazu bewogen, auf
der eindeutigeren Seite des Rechtsstaates zu bleiben.
»Sie wissen nicht zufällig, wann die Akte wieder zurück sein
wird?«
»Tut mir leid, theoretisch könnten wir sie natürlich jederzeit
zurückfordern, aber …« Sie zog bedauernd und um Verständnis bittend die
Schultern hoch. »Wissen Sie, eine Insel ist keine Großstadt.«
»Schon gut«, beruhigte Leander sie. »Ich weiß schon, hier rückt
man zusammen, und Herr Petersen ist nicht irgendwer.«
Er stellte seine letzte Akte zurück ins Regal und wandte sich
zum Gehen, als ihm noch eine Idee kam.
»Eine Frage noch: Wann genau hat Herr Petersen die Akte
ausgeliehen?«
»Gestern Nachmittag. Es schien sehr wichtig zu sein, denn er
hat darauf bestanden, dass er sie sofort bekam, und er hat diesmal sogar seine
Sekretärin geschickt, um sie abzuholen.«
Leander nickte. Genau das hatte er vermutet. Petersen war durch
den Kaufvertrag des Hauses auf das Datum gestoßen und hatte gehandelt, bevor
Leander auf die Idee kam. Das war so weit-wie vorsichtig von ihm gewesen.
»Würden Sie mich benachrichtigen, wenn die Akte wieder da
ist?«, erkundigte er sich und schrieb seine Adresse und Telefonnummer auf einen
Zettel, den er der jungen Frau aushändigte.
»Natürlich«, erklärte sie schnell, offenbar erleichtert darüber,
dass Leander keinen Ärger machte.
Sie schloss hinter ihm die Tür zum Archiv ab und begleitete ihn
bis zum Ausgang des Rathauses, denn jetzt nach Dienstschluss waren bereits alle
Türen abgeschlossen.
Leander trat hinaus in die eisige Kälte und atmete tief durch.
Die frische Luft tat gut nach den Stunden in dem staubigen Archivkeller. Jetzt
wollte er nur noch nach Hause, etwas essen und sich auf seinen Skatabend
vorbereiten. Auf dem Heimweg kaufte er in der Bäckerei Hansen in der
Mittelstraße ein doppelt gebackenes Graubrot und erkundigte sich bei der
Gelegenheit nach
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