Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
mehr mit ihrem Job befassen zu müssen. Zuletzt bat er
sie, ihm seinen Laptop und den Internetstick aus seiner Wohnung in Kiel
mitzubringen, damit er von der Insel aus selbst recherchieren konnte, falls es
nötig wäre.
Nach dem Telefonat legte Leander die Urkunden über den Erwerb des
Hauses und des Kutters auf den Wohnzimmertisch und zog sich dann mit einer
heißen Tasse Tee ins Bett zurück. Seine Knochen fühlten sich an, als hätte er
einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Genüsslich spürte er dem leichten
Schmerz der Überanstrengung nach.
Als Kind hatte er sich in solchen Situationen abends im Bett
immer vorgestellt, nach einem anstrengenden Tag auf einer einsamen Insel in
einer Höhle auf weichem Moos zu liegen und im flackernden Licht eines
Lagerfeuers den Geräuschen der Nacht zu lauschen. Ganz weit weg war er von
diesen Kinderträumen nun nicht mehr, und genau wie damals schlief er bei dieser
Vorstellung im Handumdrehen ein.
9
Dienstag, 23. Dezember
Der Tag vor Heiligabend war ruhig und friedlich. Die Insel
lag unter dem Eindruck des eisigen Ostwindes in Kälte erstarrt, und die
Touristen ließen sich nur selten und ungern draußen sehen. Aus der Zeitung, die
jetzt immer morgens vor seiner Haustür lag, entnahm Leander, dass sogar die
Gefahr bestand, dass die Wyker Dampfschiff-Reederei den Fährverkehr zwischen
dem Festland und den Inseln ganz einstellte, da das Packeis allmählich zu dick
wurde. Leander hoffte, dass Lena am kommenden Tag noch herüberkommen würde. Was
dann kam, war höhere Gewalt, selbst wenn Lena bis zum Februar nicht wieder nach
Kiel konnte, was aber sicher noch nie vorgekommen war. Außerdem gab es ja auch
noch den Flughafen, wie Leander jetzt mit Blick auf Lenas Ankunft beruhigt, mit
Blick auf ihre Abreise allerdings verärgert einfiel.
Von den Kollegen in Husum hatte Leander nichts mehr gehört. Er
überlegte, ob er sie selber kontaktieren sollte. Aber was sollte das bringen?
Die würden sich schon melden, wenn sie etwas wollten, oder wenn es etwas Neues
gab.
Leander nutzte den freien Vormittag, um zu sammeln, was er inzwischen
wusste und welche Fragen sich noch nicht geklärt hatten. Systematik war eine
seiner Stärken, und so stellte er rasch eine Liste von Aufgaben zusammen, die
er sich in der nächsten Zeit vornehmen wollte:
– die Übertragungsurkunden von Haus und Kutter
juristisch überprüfen (Lena)
– Hinnerks Vermögensverhältnisse klären, sobald der Erbschein
da ist
– den Weg des Geldes und seine Herkunft
nachvollziehen, um herauszufinden, warum Hinnerk überhaupt beteiligt worden ist
– Claus und Hauke Petersen, Enno Jessen, Ocko Hansen
und natürlich auch Wilhelm Jörgensen und Heinrich Leander überprüfen (evtl. mit
Hilfe des LKA-Computers, d. h. Lena)
die Wehrmachtsgeschichte der fünf Freunde überprüfen
(Zeitungsarchiv, Inselarchiv, Brodersen, evtl. Marinearchiv Kiel)
mit Brodersen über Juden auf der Insel und über die
Flüchtlingshilfe reden
– selber der Familiengeschichte des Fischhändlers
Raabe nachgehen
– klären, wer hinter der Nordfriesischen Haus-und
Grundstücks-GmbH in Hamburg steckt (Lena)
– herausfinden, worüber Hinnerk zuletzt mit seinen
Freunden gestritten hat (mit Eikens Hilfe)
Bei Durchsicht der Liste
schien ihm einzig die Nachforschung über die Familie Raabe relativ leicht zu
sein. Wenn er gleich die Urkunden vom Rathaus aus an Lenas Büro faxte, würde er
das Archiv aufsuchen, das ja sicher auch dort untergebracht war. Am
schwierigsten schien ihm der letzte Punkt. Die alten Männer wollten
offensichtlich nicht reden, und auf ihre Auskünfte war er angewiesen, wenn er
weiterkommen wollte. Also musste er zuerst die anderen Punkte klären und
hoffen, dass er dabei automatisch auf Antworten stieß.
Nach dem Frühstück ging Leander mit den beiden Urkunden ins
Rathaus und erkundigte sich nach einer Faxmöglichkeit. Er wurde an die
Touristeninformation verwiesen, wo er gegen eine Gebühr die wichtigen Dokumente
an Lenas Büronummer in Kiel faxen konnte. Auf dem Wege der Amtshilfe wäre das
sicher auch gratis möglich gewesen, aber Leander hatte beschlossen, seine
Polizeikarte nur im äußersten Notfall zu spielen und in anderen Fällen konsequent
den Privatstatus zu erproben.
Anschließend wechselte er in den Verwaltungsbereich, um das
Melderegister beziehungsweise das Stadtarchiv zu suchen. Dort empfing ihn eine
junge rotgetönte Frau mit gepiercten Nasenflügeln, die gar nicht in das Klischee
einer Akten
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