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Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Titel: Leander und der tiefe Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Breuer
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keine
Abmeldung verzeichnet, obwohl sein Großvater Haus und Kutter zu dem Zeitpunkt
erworben und angeblich seinen früheren Chef außer Landes gebracht hatte.
Folglich musste die Familie Raabe nach dem 11. November 1938 von der Insel
verschwunden sein. Im Mai 1945 hörte Leander auf zu suchen, denn am 8. Mai 1945
hatte Großadmiral Dönitz für das Deutsche Reich kapituliert.
    Also blieb ihm nichts anderes übrig, als von 1935 an in der
Zeit rückwärts zu recherchieren. Die Liste jüdischer Familien wurde länger, je
weiter Leander zurückging, auch wenn sie insgesamt nicht so groß wurde, dass
man von einer jüdischen Gemeinde hätte sprechen können. Die Menschen waren
größtenteils Fischer oder Kaufleute gewesen, nur einer, ein gewisser Jacob
Jess, war Beamter bei der Wyker Stadtverwaltung gewesen. Seine Amtsbezeichnung
war 1935 gestrichen worden, von da an war er als arbeitslos geführt worden, bis
er am 7. Juni 1942 mit seiner Familie »umgesiedelt« worden war. Die
Vorgehensweise war typisch: Zunächst hatte man ihn offenbar im Zuge der
»Gleichschaltung« und Arisierung aus dem Staatsapparat entfernt und dann mit
seiner Familie in ein Konzentrationslager im sogenannten »deutschen Ostraum«
deportiert, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit in einem der Vernichtungslager
ermordet worden war. Vor seinem geistigen Auge sah Leander die langen Züge mit
den Viehwaggons vor sich, die Millionen von Menschen in die Todeslager
transportiert hatten. An einem mit Stacheldraht beschlagenen Fenster stand
Jacob Jess und starrte hinaus in die flache norddeutsche Landschaft, die bis
dahin seine Heimat gewesen war.
    Die Deportationen von Föhr hatten, wie Leander mit Blick auf
seinem Zettel feststellte, alle im Juni 1942 stattgefunden. Das versetzte ihm
einen Stich, denn die Daten von 1938 bis 1942 verbanden sich auf erschreckende
Weise mit dem Zeitpunkt der Übertragung von Haus und Kutter an seinen Großvater
und mit dem Dienst in der Kriegsmarine, den der damals junge Mann versehen
hatte. Falls auch Wilhelm Raabe »umgesiedelt« worden war, lag der Verdacht
nahe, dass Heinrich Leander sich als junger Mann am Leid seines jüdischen Chefs
bereichert hatte. Das erklärte den frühen Wohlstand und das gesicherte Leben
nach dem Dritten Reich. Und es war auch eine mögliche Erklärung für den Streit
zwischen Leanders Großvater und seinem Vater, falls Letzterer so wie Henning
Leander jetzt auf die Zusammenhänge gestoßen war.
    Leander wusste, dass viele Deutsche zu ihrem Besitz gekommen
waren, indem sie jüdische Nachbarn und Mitbürger ihren Mördern ausgeliefert
oder sich sogar aktiv an der Ermordung der Juden beteiligt hatten. Über Hermann
Göring hatte er einmal gelesen, dass der ein komplexes System aus Banken hinter
sich gehabt hatte, mit deren Hilfe er in den Besitz enteigneter jüdischer
Unternehmen und Kunstschätze gelangt war. So manches Großunternehmen verdankte
seinen Reichtum dem Raubmord an den Juden und der Ausbeutung von
Zwangsarbeitern. Was lag angesichts dieses Verdachtes näher, als eine ähnliche
Seilschaft in kleinem Stil auf Föhr zu vermuten, der vielleicht neben ein paar
einfachen Männern wie dem Fischer Heinrich Leander auch ein heute wohlhabender
Notar und ein ebenso reicher Makler angehört hatten? Das erklärte auch den Zusammenhalt
über die großen Unterschiede der Männer hinweg, denn jeder wusste genug über
den anderen, um für den Rest des Lebens aneinander gebunden zu sein.
    Als Leander dies klar wurde, verschwammen ihm für einen Moment
die Buchstaben vor den Augen, denn er fühlte sich mit einem Mal als Nachfahre
eines Nazitäters und im Besitz verbrecherisch erworbenen, ehemals jüdischen Eigentums.
Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er seinen Vater und die Distanz, die
dieser zu dessen eigenem Vater gehabt hatte. Die Trennung der beiden Männer war
in die Zeit der 68er-Bewegung gefallen, einer Zeit höchster politischer
Aufregung, einer Zeit des Aufbruchs, in der die Jungen den Alten unbequeme
Fragen über deren Verhalten im Dritten Reich gestellt hatten. Vor allem vor dem
Hintergrund, dass Leanders Vater Bjarne Historiker werden wollte und seinen
Schwerpunkt auf genau diese zeitgeschichtliche Epoche gelegt hatte, schien es
fast zwingend, dass er auch zu Hause nachgeforscht hatte. Diese Logik klärte
für Leander mit einem Schlag alle offenen Fragen der letzten Jahre.
    Derart selbst betroffen, machte er sich noch verbissener als
vorher an die Suche nach der Familie Raabe,

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