Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
interessante Wintergäste
auf. Wart ihr schon draußen bei Eiken in der Beobachtungsstation?«
»Ich war da«, erzählte Leander, »allerdings bei dem eisigen
Ostwind neulich. Ich kann dir sagen, wenn Eiken und ihr Ofen nicht gewesen
wären, säße ich jetzt nicht mehr hier.«
Brodersen lachte.
»Touristen«, er betonte das Wort ironisch, »unterschätzen die
Naturgewalten hier bei uns auf der Insel. Die Nordsee wird nicht umsonst der
Blanke Hans genannt. Das Klima ist rau und mitunter nicht ganz ungefährlich.«
Dann wechselte er das Thema: »Aber ihr seid wegen anderer
Sachen hier, stimmt’s? Es geht um unsere Inselgeschichte.«
»Stimmt«, antwortete Leander. »Wir interessieren uns für die
Fluchthilfe, die mein Großvater und seine Freunde angeblich geleistet haben.«
»Wieso angeblich?«, hakte Brodersen ein und ließ sich von
Leander die Zweifel erläutern.
»Nee, nee«, sagte er dann, »das war schon richtige Fluchthilfe.
Da gibt es überhaupt keine Zweifel. Das ist auch alles relativ umfassend
erforscht und belegt. Wartet mal …«
Er ging zum Bücherregal und zog nach kurzem Suchen ein Buch mit
festem Einband heraus.
»Hier«, sagte er und reichte es Lena, die schneller war als
Leander.
» Flüchtlingslos und Helfergeist «, las sie den Titel vor.
» Fluchthilfe in Norddeutschland während der Zeit des Dritten Reiches .«
Sie blätterte in dem Buch, so dass Leanders Blick auf die
Rückseite und damit auf das Foto des Autors fiel.
»Den kenne ich doch«, sagte er und nahm Lena das Buch aus der
Hand, um das Foto näher betrachten zu können. »Natürlich, das ist Professor
Carstens von der Uni Hamburg, ein Kollege am Institut meines Vaters. Wieso
schreibt der ein Buch über die Fluchthilfe auf den Nordfriesischen Inseln, wenn
das auch das Thema meines Vaters war, der noch dazu einen Fluchthelfer in der
eigenen Familie hatte?«
»Das musst du ihn schon selber fragen«, antwortete Lena und
angelte sich das Buch wieder zurück.
»Dein Vater ist Historiker?«, fragte Brodersen. »Was genau ist
sein Fachgebiet?«
»Mein Vater ist tot. Er war Historiker mit einem Lehrstuhl für
Zeitgeschichte in Hamburg und hat sich vor allem mit dem Dritten Reich
befasst.«
»Verstehe«, antwortete Brodersen. »Vor dem Hintergrund hätte er
deinen Großvater wie einen gallischen Häuptling auf einem Schild vor sich
hertragen müssen.«
»Eben. Stattdessen war er mit seinem Vater so zerstritten, dass
ich erst im letzten Sommer von der Existenz des alten Mannes erfahren habe.«
Brodersen dachte einen Moment nach. Dabei knetete er seine
Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Ruf ihn an!«, sagte er plötzlich, und auf Leanders fragenden Blick
ergänzte er: »Diesen Carstens, ruf ihn an. Frag ihn, warum dein Vater nicht
selbst an dem Thema gearbeitet hat. Wenn sie zusammen geforscht haben, muss er
das wissen. Geh in mein Arbeitszimmer, da steht ein Telefon und du hast Ruhe.
Warte, ich zeige es dir.«
Er stand auf und ging voran zur Kellertreppe. Brodersens
Arbeitszimmer lag im Keller, war aber fast genauso hell wie ein Raum im
Erdgeschoss, weil das Grundstück vor dem großen Fenster abgeböscht war und so
volles Tageslicht hereinfiel.
»Lass dir Zeit. Die Telefonnummer findest du bestimmt im
Internet, bedien dich an dem PC, der läuft bei mir sowieso Tag und Nacht.«
Brodersen zog die Tür hinter sich zu und ging wieder hinauf,
während Leander im Internet nach den Telefonnummern suchte, die er brauchte.
Als Leander eine halbe Stunde später wieder ins Wohnzimmer
hinauf stieg, fand er Brodersen und Lena in eine lebendige Diskussion
verstrickt.
»Gut, dass du kommst«,
begrüßte Brodersen ihn. »Wir brauchen einen Schiedsrichter, sonst kommen wir zu
keinem Ende. Lena meint, die Männer des Zwanzigsten Juli seien eigentlich auch
Kriegsverbrecher. Zwar hätten sie das Attentat auf Hitler verübt, was löblich
sei, aber zuvor hätten sie einen verbrecherischen Angriffskrieg mit zu
verantworten gehabt.«
»Da hat sie recht«, stimmte Leander Lena zu.
»Ich finde hingegen, dass sie lange Zeit so gehandelt haben,
wie sie es für richtig hielten, auch wenn das falsch war, was sie taten, aber
immerhin waren sie von Beruf Wehrmachtsoffiziere, also Soldaten. Als sie dann
erkannten, wie verbrecherisch der Krieg war, verbündeten sie sich zu ihrem
Attentat. Damit haben sie vieles wiedergutgemacht.«
»Da hast du recht«, erklärte Leander, was staunende Blicke bei
Lena und ratlose bei Brodersen
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