Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
Carstens überlassen. Der ist heute noch
dankbar dafür, weil das sein größter Veröffentlichungserfolg gewesen ist.«
»Da stimmt doch etwas nicht«, wandte Brodersen ein. »Was ist
denn das für ein Wissenschaftler, der die Wahrheit verschweigt, wenn sie ihm
nicht in den privaten Kram passt? Wieso konnte er nicht zugeben, dass sein
Vater ein Held war?«
»Ich fürchte, du hast recht im Unrecht.«
»Nee«, wetterte Brodersen. »Jetzt nicht schon wieder so
kryptisch!«
»Also«, erklärte Leander. »Ich glaube nicht daran, dass mein
Vater nicht die Größe besessen hat, zuzugeben, dass mein Großvater tatsächlich
vielen Menschen das Leben gerettet hat. Das hätte er auch tun können, ohne
jemals wieder engen Kontakt nach Hause zu suchen. Insofern hast du unrecht. Ich
glaube stattdessen, dass er Beweise für die Schuld seines Vaters hatte oder
zumindest einen sehr starken Verdacht. Dafür, dass Hinnerk und seine Freunde
eben doch nicht nur Menschenleben gerettet, sondern daran viel Geld verdient
haben, vielleicht sogar am Tod von Menschen. Und das wollte er nicht
veröffentlichen. Insofern hast du recht mit deiner Äußerung von eben.«
»Ein Historiker, der lieber zuschaut, wie ein anderer falsche
Veröffentlichungen macht, nur um nicht die Wahrheit sagen zu müssen?«,
zweifelte Lena nun. »Das passt nicht. Schließlich war er genau deshalb mit
seinem Vater zerstritten.«
»Ich weiß es doch auch nicht«, klagte Leander.
»Zumindest muss er etwas in der Richtung vermutet haben und
wollte nicht weiter recherchieren, aus Angst, dabei auf schlimme Wahrheiten in
der eigenen Familie zu stoßen.«
»In dem Fall kann er sich aber gewaltig geirrt haben«, warf nun
auch Brodersen ein. »Ich kenne alles über die Fluchthilfe deines Großvaters und
seiner Freunde, und meines Erachtens gibt es überhaupt keine Anhaltspunkte für
irgendwelche Schweinereien. Zumindest nicht in den ersten Jahren.«
»Was heißt das?«, horchte Leander auf.
»Na ja, für später hat man keine Zeugen mehr gefunden. In den
letzten Kriegsjahren fiel alles, was auf Sylt passierte, unter strengste
Geheimhaltung. Nur die dort stationierten Soldaten wissen, was da passiert ist,
also zum Beispiel die Freunde deines Großvaters. Und deren Aussagen decken
sich.«
Leander zog die Fotos der Familie Williamson hervor und zeigte
sie Brodersen.
»Ich frage mich gerade, wann diese Leute geflohen sind.
Vielleicht konnten sie Auskunft darüber geben, was auf Sylt und Föhr wirklich
los war. Und vielleicht musste Stewart Williamson deshalb sterben.«
»Aber Wilhelm Jörgensen und Ocko Hansen haben doch erzählt,
Williamson sei ihnen sehr dankbar gewesen«, warf Lena ein.
»Das muss ja nicht stimmen«, entgegnete Leander. »Kann ich noch
einmal telefonieren gehen?«
»Natürlich. Beweg dich frei wie zu Hause. Ich habe lange nicht
mehr so spannende Dinge diskutiert.«
Leander ging noch einmal hinunter ins Arbeitszimmer, um mit der
Detektei zu telefonieren, die für Hinnerk in England tätig gewesen war. Beim
dritten vergeblichen Anlauf fiel ihm ein, warum dort vermutlich niemand ans Telefon
ging: Es war Samstag und dazu auch noch das Wochenende direkt nach Weihnachten.
Durchgängige Anwesenheit und Arbeitsbereitschaft konnte man wohl doch nicht
erwarten. Er musste sich darauf beschränken, eine E-Mail an die Detektei zu
schicken.
Als er wieder zu den anderen kam, erläuterte er ihnen seine
Idee: »Ich habe den englischen Detektiv gebeten, mir alles zusammenzustellen,
was er über die Familie Williamson und ihre deutsche Vergangenheit herausfinden
kann. Dazu habe ich das neueste Foto eingescannt und per Mail an sein Büro
geschickt. Außerdem soll er mir über die englischen Behörden zu einer Liste
möglichst aller Flüchtlinge verhelfen, die damals über die deutschen Inseln
nach England gelangt sind. Du, Lena, schickst bitte eine Mail an unsere
Dienststelle und bittest die Kollegen, über das Auswärtige Amt dieselben
Auskünfte einzuholen. Wir werden die Listen dann miteinander vergleichen und
gegebenenfalls so zu einer vollständigen Aufstellung kommen. Es wäre doch
gelacht, wenn sich keine überlebenden Zeitzeugen fänden.«
»Das wird in Zukunft zu einem ernsten Problem werden«, stimmte
Brodersen zu. »Die Zeitzeugen sterben langsam aus. Wer bis jetzt nicht befragt
worden ist, wird in Zukunft keine Auskunft mehr geben können. Meine Schüler
haben bislang noch vereinzelt Großeltern, die während des Dritten Reiches
gelebt haben. Ich nutze
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