Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Leander und der tiefe Frieden (German Edition)

Titel: Leander und der tiefe Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Breuer
Vom Netzwerk:
das, wann immer es geht, für den Unterricht.«
    »Bist du nie auf Widersprüche gestoßen? Hattest du immer das
Gefühl, die Fluchthilfe-Story stimme?«, erkundigte sich Leander.
    Brodersen nickte. »Natürlich war hier auf der Insel nicht alles
so, wie wir uns das heute wünschen. Die Friesen sind ein Volk für sich, und die
Nordfriesen erst recht. Im Laufe der Jahrhunderte war Nordfriesland mal
deutsch, mal dänisch. Hier hat ein gewisser Nationalismus immer eine genauso
große Rolle gespielt wie der vielbeschworene Freiheitsdrang der Friesen –
Pidder Lyng und so. Im Dritten Reich gab es hier natürlich fanatische Rassisten,
aber insgesamt haben die Insulaner sich bei allen Differenzen doch nie
gegenseitig etwas getan. Niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, einen
Nachbarn anzuschwärzen. Versteht ihr? So eine Insel ist gelegentlich im Griff
der Naturgewalten und vom Festland abgeschnitten. Da hält man schon aus reinem
Überlebensdrang zusammen. Das ist eine jahrhundertealte Tradition und wird
nicht in lächerlichen zwölf Jahren anders, nur weil sie großkotzig
›tausendjährig‹ genannt werden. Jede Insel ist quasi ein kleiner Staat für
sich. Klar, den Amrumern und Syltern gönnt man die Butter auf dem Brot nicht,
und genauso ist es umgekehrt, aber untereinander gilt so etwas wie ein heiliger
Schwur.«
    »Da ist es für Zugezogene wohl nicht so leicht hier, was?«,
erinnerte sich Lena mit einem Seitenblick auf Leander an Eikens Prognose.
    »Weißt du, wer nicht seit Anbeginn aller Zeiten auf der Insel
lebt, kann kein Einheimischer sein, aber wenn du einen Ur-Ur-Ur-Großvater hast,
der irgendwann auf diese Insel gezogen ist, kannst du Glück haben, dass man
dich als Zugezogenen akzeptiert, sofern er nicht von Amrum oder Sylt kam.«
    »Gut«, sagte Lena, »dann werde ich mal eine Mail nach Kiel
schicken. Eigentlich bin ich ja auf die Insel gekommen, um einmal
auszuspannen.«
    Sie verließ das Wohnzimmer und suchte sich alleine den Weg
hinunter in Brodersens Arbeitszimmer.
    »Noch einmal zu deinen Zeitzeugen«, hakte Leander nach. »Bist
du im Laufe der Jahre einmal auf jemanden gestoßen, der weniger unkritisch auf
die Inselgeschichte schaut? Ich muss jemanden finden, der offen über die
Freunde meines Großvaters spricht.«
    Brodersen schüttelte den Kopf.
    »Da wirst du kein Glück haben. Ich habe schon einige Mühe,
gegen die verklärende Geschichtsschreibung der Heimatforschung hier
anzukommen. Schau mal in die Bücher über die Nordfriesischen Inseln und
Halligen. Da hat es die zwölf Jahre des Dritten Reiches gar nicht gegeben.
Dafür stehen seitenlange Lobeshymnen über die Entstehung der Seebäder darin.
Wenn du überhaupt etwas erfahren kannst, dann indirekt über Eiken. Sie wird
hier akzeptiert und ist unverdächtig. Mit ihr reden die Leute einigermaßen
offen, für ihre Verhältnisse jedenfalls. Allerdings wird auch sie aufpassen,
dass sich daran nichts ändert.«
    Lena kam zurück und berichtete, dass sie die Kollegen gebeten
habe, von Kiel aus gleich am Montag eine Anfrage an das Ministerium des
Auswärtigen zu schicken. Mit etwas Glück hätten sie die Liste gleich nach dem
Jahreswechsel.
    Sie redeten noch stundenlang über die Geschichte der Insel.
Brodersen war ein wandelndes Lexikon und verstand es, die vergangenen
Jahrhunderte wieder lebendig werden zu lassen – von der ersten Besiedelung über
die Zeit des Walfangs und der großen Sturmfluten bis zu den Dänenkriegen. Vor
Leander und Lena entfesselte sich ein Überlebenskampf, der ihnen ein Gefühl
dafür vermittelte, wie sehr die deutsche Geschichtsschreibung reduziert wurde,
wenn sie sich derart auf die zwölf Jahre des Dritten Reiches konzentrierte,
auch wenn diese Zeit wie unter einem Brennglas nahezu alle zentralen Felder der
Geschichtswissenschaft, der Politologie, der Soziologie, der Verhaltensforschung
und der Ethik zusammenzog. Bekam man Antworten auf diese Fragen, bestand die
Chance, einen Schlüssel auch zu anderen großen geschichtlichen Phasen zu
bekommen.
    »Es ist doch erstaunlich«, meinte Lena schließlich, »dass der
Nationalismus hier auf den Inseln so wenig mit Judenfeindlichkeit gekoppelt
war.«
    »Da irrst du dich«, korrigierte Brodersen sie entschieden. »An
kaum einem anderen Ort in Deutschland war der Antisemitismus so früh und so
extensiv verbreitet wie an der Küste und auf den Inseln.«
    Leander und Lena sahen ihn
derart ungläubig an, dass er sich offenbar gefordert sah, diese Behauptung
sachkundig zu

Weitere Kostenlose Bücher