Leander und der tiefe Frieden (German Edition)
er das Album geholt hatte.
Vorsichtig zog er ein weiteres heraus, das dem ersten absolut ähnlich sah. Zärtlich
streichelte er über den Buchdeckel und legte es geschlossen vor Leander auf den
Tisch.
»Für Sie«, sagte er. »Das ist Hinnerks Exemplar. Nach Wenckes
Tod konnte er die Fotos aus seiner glücklichen Zeit nicht mehr ertragen und
wollte das Album in seiner Verzweiflung verbrennen, aber ich habe es ihm weggenommen
und für ihn aufbewahrt. Jetzt gehört es Ihnen.«
Leander bedankte sich, indem er Ocko Hansens Arm drückte, und
spürte, wie ihm dabei Tränen in die Augen stiegen. Lena konnte sehen, dass Ocko
Hansen es auch bemerkt hatte und in diesem Moment beschloss, das Kriegsbeil zu
begraben.
»Freunde wie Sie und Jörgensen müssen etwas Wunderbares sein«,
sagte sie mit belegter Stimme, aber Hansen winkte bescheiden ab.
»Doch, doch«, bestätigte auch Leander. »Bevor eine solche
Freundschaft, die über Jahrzehnte hinweg gehalten hat, leidet, muss etwas sehr
Einschneidendes passieren. Was war also in der letzten Zeit zwischen Ihnen und
Hinnerk? Worüber haben Sie sich gestritten?«
»Wir haben uns nicht gestritten«, antwortete der alte Mann
schroff, und Leander und Lena konnten sehen, wie alles, was sie in der letzten
halben Stunde mühsam an Vertrauen aufgebaut hatten, schlagartig wieder zunichte
gemacht war.
»Das stimmt doch nicht«, widersprach Lena. »Sogar Wilhelm Jörgensen
gibt zu, dass etwas zwischen Ihnen stand.«
Die kleine Lüge verunsicherte Ocko Hansen, aber sie führte
nicht dazu, dass er einlenkte.
»Meinungsverschiedenheiten sind auch zwischen Freunden normal«,
erklärte er trotzig. »Das ist noch längst kein Streit.«
»Worüber waren Sie denn unterschiedlicher Meinung?«, erkundigte
sich Leander hartnäckig. »Ging es um den verunglückten Engländer?«
Ocko Hansen antwortete nicht.
»Wilhelm Jörgensen hat erzählt, Stewart Williamson sei bei ihm
gewesen und habe sich für die Rettung seiner Eltern bedankt«, berichtete Lena.
»War er auch bei Ihnen?«
»Bei mir war er auch«, bestätigte Hansen. »Und dass er sich
bedankt hat, stimmt.«
»Warum hat mein Großvater dann Verdacht geschöpft, als
Williamson verunglückt ist?«
»Weil er gesponnen hat zuletzt«, fuhr Hansen auf. »Und daran
sind Sie schuld. Was kommen Sie nach all den Jahren auf die Insel und stellen
Fragen? Hinnerk hatte endlich Ruhe gefunden, nachdem Ihr Vater ihn jahrelang so
gequält hat. Dass sein Sohn ihn so verraten hat, war für ihn fast so schlimm
wie Wenckes Tod.«
»Verraten?«, hakte Leander nach.
»Na ja, Hinnerk hat sich für ihn aufgeopfert, damit ihm nichts
fehlte, wenn er schon keine Mutter mehr hatte. Und dann hat der Bengel ihm
vorgeworfen, ein Nazi gewesen zu sein oder zumindest ein Kriegsgewinnler. Diese
Hippies tickten doch nicht ganz sauber! ›Hinnerk‹, habe ich gesagt, als Bjarne
die Insel verlassen hat, ›Hinnerk, sollst sehen, der wird ein Terrorist.‹
Bjarne und dieser Erik Petersen, die haben nichts getaugt!«
»Womit Sie ja wohl unrecht hatten«, warf Leander ein. »Mein
Vater ist kein Terrorist geworden, sondern ein angesehener Historiker.«
»Jedenfalls hat Hinnerk Jahre gebraucht, bis er das verkraftet
hatte. Wenigstens hatte er in der Zeit seine Freunde. Und dann tauchen Sie hier
auf und wühlen alles wieder hoch.«
»Ich wollte Antworten«, verteidigte sich Leander. »Stellen Sie
sich doch einmal vor, wie es ist, quasi ohne Familie aufzuwachsen und erst am
Sterbebett des Vaters zu erfahren, dass es all die Jahre einen Großvater
gegeben hat, von dem Sie nichts wussten. Wollten Sie da nicht erfahren, warum
Sie so viele Jahre auf ihn verzichten mussten?«
»Ihre Sicht der Dinge ist verständlich«, gab Hansen zu. »Aber
für Hinnerk war es so, dass er jetzt dieselben Antworten noch einmal geben
sollte. Und diesmal wollte er nicht, dass sie wieder zu Streit führten. Er
wollte alles richtig machen und Sie nicht sofort wieder verlieren.«
»Wo ist denn da das Problem? 1968 ist lange vorbei. Ich stelle
nicht eine ganze Generation unter Generalverdacht. Außerdem haben Sie ja
genügend Beweise dafür, dass Sie im Dritten Reich nicht schuldig geworden
sind.«
Ocko Hansen schwieg und starrte in seine leere Teetasse.
»Oder gibt es da etwas, das nicht herauskommen darf, weil Ihre
Heldengeschichte gar nicht stimmt?«
»Natürlich nicht!«, begehrte Hansen auf. »Wir haben hilflosen
Menschen das Leben gerettet!«
»Und dafür Geld genommen«, warf Lena ein, um den
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