Leander und die Stille der Koje (German Edition)
erklärte Mephisto an ihrer Stelle, »ich rede von dem zweifellosen – oder sollte ich eher sagen: zweifelhaften? – Höhepunkt dieser Veranstaltung, jedenfalls aus der Sicht unseres Herrn Bürgermeisters. Um zwölf Uhr wird er seine Ansprache halten und damit offiziell die Festwoche einläuten. Und wie ich sehe, hat sich die Presse zu diesem Behuf auch schon nah am Geschehen positioniert.«
Alle drehten sich um und folgten Mephistos Blick an den Stehtisch direkt hinter ihnen, an dem sich der Inselreporter Bertolt Brüning gerade wegzuducken versuchte. Als sich jedoch alle Augen auf ihn richteten, versuchte er ein etwas verunglücktes Lächeln und prostete ihnen zu.
In diesem Moment brach die Musik in den Lautsprechern ab, und auf der überdachten Bühne, die am Deich vor dem Reedereigebäude errichtet worden war, trat Bürgermeister Ture Jacobsen ans Mikrofon.
»Wenn der Teufel von ihm spricht …«, kommentierte Mephisto und machte einen sehr zufriedenen Eindruck. »Bestimmt wird er uns nun einen Vortrag halten, den er in seiner geringen Klause zwar nicht selbst gedichtet, aber von einem Lohnschreiberling höchstselbst überreicht bekommen hat.«
»Unterschätze unseren Bürgermeister nicht«, widersprach Tom Brodersen. »Der nimmt es sehr genau, wenn es um seine öffentliche Wirkung geht.«
Bürgermeister Ture Jacobsen räusperte sich und blickte von seiner Bühne aus etwas unsicher in die Runde. »Liebe Bürgerinnen und Bürger der Stadt Wyk, liebe Föhrer Urlaubsgäste, liebe Gäste, die Sie heute anlässlich unseres Hafenfestes vom Festland und von den Nachbarinseln zu uns herüber gekommen sind«, begann er mit leicht zitternder Stimme. »Ich habe als Bürgermeister der Stadt Wyk die Ehre, die Feierlichkeiten zu unserem einhundertjährigen Stadtjubiläum zu eröffnen, und diese Ehre ist umso größer, da ich die Rede zum zweihundertjährigen Jubiläum voraussichtlich nicht mehr halten werde.«
Einige Festbesucher lachten höflich, aber insgesamt hielt sich die Stimmung noch auf einem sehr niedrigen Pegel.
Bürgermeister Jacobsen beschrieb die anstehenden Highlights der Festwoche, bot einen historischen Rückblick auf die Jahrzehnte, seit Wyk im Jahre 1910 die Stadtrechte übertragen bekommen hatte, betonte dabei die Bedeutung der noch viel weiter zurückliegenden Einrichtung des Seebades Wyk auf Föhr im Jahre 1819 als erstes schleswig-holsteinisches Seebad und wagte Ausblicke auf die Zukunft, die weniger spektakulär waren, als er selbst es betonte.
Zwischendurch bekam er heftigen Beifall, wenn er anwesende Persönlichkeiten wie zufällig in seine Rede einbezog und ihre große Bedeutung für die eigentlich ja noch recht junge Stadt darlegte. Insgesamt war es eine sichere Rede ohne irgendwelche neuen Erkenntnisse für die Einheimischen und mit wenigen Daten, die für die Urlauber von Bedeutung waren. Dennoch geriet der Applaus am Ende überraschend heftig, was durchaus die Verbundenheit der Wyker Bevölkerung mit ihrem Bürgermeister ausdrückte, aber auch die Freude der anderen, dass die Rede kürzer war als befürchtet. Es wurden Hände geschüttelt und Schultern geklopft, als Ture Jacobsen nun das Rednerpult verließ, und auch Bertolt Brüning kämpfte sich nach vorne durch, um die Kommentare nicht zu verpassen, die morgen in seinem Artikel das nötige Kolorit liefern sollten.
Leander und Lena wandten sich wieder den anderen an ihrem Tisch zu und besprachen die anstehenden Veranstaltungen der Festwoche, bis Dieter Bennings Lena schließlich auf die Schulter tippte und zur Bühne hinüber zeigte. »Was treibt denn unser Freund Hinrichs da?«
Neben der Bühne stand Oberkommissar Hinrichs und unterhielt sich sichtbar aufgeregt mit Bürgermeister Jacobsen, wobei der Redeanteil des Bürgermeisters deutlich größer war. Hinrichs gestikulierte heftig mit Händen und Füßen und hatte offenbar Mühe, die verbalen Angriffe seines Gegenübers abzuwehren. Nur wenige Meter entfernt, aber von der Bühne vor den Disputanten halb verdeckt, stand Bertolt Brüning und lauschte dem Geschehen mit einem zufriedenen Grinsen.
»Das werden wir morgen in der Zeitung lesen können«, kommentierte Mephisto, ebenfalls mit einem Grinsen, aber einem deutlich schadenfroheren.
Jetzt wandte sich Hinrichs ab und stieg die Treppe hinunter in den Hafenbereich. Als er in die Nähe ihres Tisches kam, rief Lena ihn zu sich. Hinrichs hatte ein knallrotes Gesicht.
»Was war denn da los, Herr Kollege?«, erkundigte sie
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