Leander und die Stille der Koje (German Edition)
Sekunden auseinander, also war das Gewitter noch relativ weit entfernt, irgendwo da draußen über dem Meer. Doch jetzt kam heftiger Wind auf. Hatten die Gräser der renaturierten Flächen eben noch reglos in die Hitze geragt, wurden sie nun von starken Böen schräg zur Seite gedrückt und unablässig hin und her gerissen. Nicht lange mehr, und es würde sicherlich auch noch wie aus Kübeln schütten.
Heinz Baginski überlegte, was er nun tun sollte. Daran, nach Wyk zurückzuradeln, war überhaupt nicht zu denken angesichts der Gefahren, die von den Blitzen ausgingen. Was las man nicht alles für Horrorgeschichten über Fußballspieler, die mitten auf dem Rasen vom Blitz erschlagen worden waren, und von Radfahrern, die vom Blitz wie mit einem Punktschweißgerät an den Rahmen ihres Drahtesels geschweißt worden waren. Aber auch hier in der Wellblechröhre fühlte er sich nicht sicher, weil er nicht wusste, ob die Metallhülle eine besondere Gefahr darstellte, da sie Blitze anzog, oder ob sie vielleicht sogar einen besonderen Schutz bot, weil sie die Energie zur Seite hin ableitete wie ein Faraday’scher Käfig. Es war viel zu riskant, das auszuprobieren, denn bereits der erste Einschlag konnte tödlich sein, wenn seine Ableitungshypothese falsch war. Doch wohin sollte Heinz Baginski sich flüchten?
Die Kühe brüllten wie am Spieß und rasten wild über die Weide, als Blitze und Donnerschläge sich nun in kurzer Folge abwechselten. Hein Frerich sprang mit seinen viel zu großen Gummistiefeln unbeholfen durch die ersten dicken Regentropfen und wich den Matschpfützen aus, die sich schnell überall bildeten. Er hätte sich, als seine alten Stiefel sich nach zwanzig Jahren täglichen Tragens in Wohlgefallen aufgelöst hatten, doch neue kaufen und nicht die seines Vaters auftragen sollen. Da hatte er offenbar am falschen Ende gespart. Warum hatte der Alte auch so riesige Quanten gehabt?
Was hatten die Viecher bloß? Klar, das Gewitter war ungewöhnlich heftig, aber es hatte sich ja auch tagelang aufgebaut. Wahrscheinlich war die Spannung in der Luft so groß, dass die Kühe ganz rammdösig waren und jetzt nicht wussten, was sie von dem Inferno zu halten hatten. Frerich stolperte aus der Hofeinfahrt auf die Straße, um die Weide gegenüber noch zu überprüfen, bevor er für den Rest des Tages in seinem trockenen Haus verschwinden und sich das Gezeter seiner Frau anhören würde. Eilig hatte er es also eigentlich nicht.
In diesem Augenblick schoss ein Auto von rechts an ihm vorbei, ohne in der großen Güllepfütze vor seiner Einfahrt das Tempo zu verringern. Das Jauche-Wasser-Gemisch schoss hoch, baute sich zu einem Tsunami auf und ergoss sich erbarmungslos mit voller Wucht über den Landwirt, der gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen war, bevor er unter die Räder des Pkw geraten wäre. Um ein Haar hätte der Kerl ihn erwischt. Dafür war er jetzt bis auf die Haut durchnässt, und stinkendes Schlammwasser tropfte aus seinen Haaren und von seiner Nasenspitze.
»Drecksau!«, brüllte Hein Frerich und hob drohend seine rechte Faust in die Luft, während er sich mit dem linken Hemdärmel über das Gesicht wischte.
Er blickte dem Pkw nach, der durch den dichten Regenschleier nur noch schwach zu sehen war, erkannte aber an den rot aufstrahlenden Lichtern, dass der Fahrer nun bremste und auf den Hof auf der rechten Seite einbog. Natürlich! Das war Wieses Kotten, dieses heruntergewirtschaftete Schlammloch. Der Fahrer musste ihn doch gesehen haben. Natürlich hatte er ihn gesehen! Und er hatte ihn absichtlich so eingesaut. Aber das würde Frerich nicht auf sich sitzen lassen. Das würde er ihm heimzahlen, diesem Klugscheißer, den er schon damals in der Schule gehasst hatte wie die Pest.
Wütend schritt Hein Frerich aus und wollte dem Pkw durch den strömenden Regen folgen, als er die keifende Stimme seiner Frau hörte: »Hein, die Hühner sind noch draußen!«
»Selber Huhn!«, murmelte Frerich, entschloss sich dann aber, den Abend nicht noch schlimmer werden zu lassen, als er ohnehin schon wurde.
Also gut, erst die Hühner, dann das Arschloch!
Dem nächsten Blitz folgte bereits in kürzerem Abstand der Donnerschlag, der auch viel lauter war als der letzte. Die Oberfläche des künstlichen Wasserlaufes wurde aufgepeitscht, der Wind pfiff über die Blechrillen zu Baginskis Kopf und wirbelte durch den Sehschlitz in den Unterstand. Schwere Tropfen eröffneten das Trommelfeuer über seinem Kopf und hallten
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