Leander und die Stille der Koje (German Edition)
musste er absteigen und sein Fahrrad hindurchschieben, und gleich dahinter fand er eine große Informationstafel, die ihn über die Arbeit von Elmeere und den Andelhof aufklärte. Wenige Meter weiter befand sich dann die Zufahrt zu einer kleinen Anzahl Parkplätze, und nun sah er ihn endlich vor sich: den Naturerlebnishof, nach dem er tagelang gesucht hatte. Und was war das für ein Hof!
Ja, was war das eigentlich für ein Hof? Heinz Baginski stutzte, rieb sich die Augen, stutzte erneut und fand sich schließlich mit dem Bild ab, das sich ihm hier bot. Er hatte etwas ganz anderes erwartet. Statt eines geordneten, gepflegten Bauernhofes in rustikalem Stil bot sich ihm ein wahres Chaos: Erdhaufen, Berge an Baumaterial, unebene Betonplatten als Bodenbelag, so dass das Stativ an den Rahmen seines Fahrrades klapperte, als er es über das Grundstück schob. Rechter Hand lag die große Scheune, die schon von Weitem mit einem dicken Vorhängeschloss am Tor von sich abschreckte. Links gab es einen kleinen Teich und reichlich Brennnesseln, dahinter hoch aufgeworfene Erdwälle, zwischen denen eine merkwürdige Nissenhütte aus Wellblech eingegraben war, wie Heinz Baginski sie von Schwarz-Weiß-Fotos seiner Großmutter aus den fünfziger Jahren kannte. In so einer hatte sie mit ihrer Familie nach der Flucht aus Ostpreußen jahrelang hausen müssen. Baginski stakste durch eine Pfütze und lenkte seine Schritte dann auf die Röhre zu. Vor dem Eingang, der aus einer rostigen Metalltür bestand, stellte er sein Fahrrad ab und befreite es vom Stativ und den Gepäckträgertaschen.
Vorschtig zog er die quietschende Tür auf, trat hindurch, ließ sie hinter sich zuscheppern, da er angesichts der umfangreichen Fotoausrüstung in seinen Händen nicht richtig zufassen konnte, und fand sich augenblicklich in tiefer Finsternis wieder. Er brauchte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen so daran gewöhnt hatten, dass er im Restlicht des Blechtunnels vor sich eine Holzwand und links daneben einen Durchgang ausmachen konnte. Zaghaft folgte er dem Weg durch die Röhre in einer Art Slalom-Kurs, bis er schließlich in einem kleinen Raum mit einem Tischchen, einem Stuhl und vor sich einer durchlöcherten Wand ankam. Die Löcher waren mit Holzschiebern halbwegs dicht verschlossen. Als er einen davon hochzog, öffnete sich ihm der Anblick auf eine dicht bewachsene, von zahlreichen Teichen und Wasserläufen durchsetzte Fläche. Und da begriff Heinz Baginski. Das war der lang herbeigesehnte Moment. Vor ihm lag die größte renaturierte Fläche der Insel, ein Kleinod angesichts der tristen landwirtschaftlichen Trockenflächen, die man sonst in der Marsch antraf. Und Vögel gab es hier auch!
Baginski stellte seine Tasche ab und sein Stativ dicht vor der Luke auf und klinkte die Kamera an. Dann schwenkte er langsam den vorderen Bereich der Fläche ab.
Als Melf Albertsen am Vormittag sein Schlafzimmerfenster wieder öffnete und die Holzläden mit Schwung zurückstieß, ergoss sich ein Schwall grellen Lichtes über ihn und zwang ihn für einen Moment, die Augen fest zuzukneifen. Er hatte lange geschlafen, die Aufregung der letzten Tage war zu viel gewesen, und so wollte er seine Praxis heute Vormittag geschlossen lassen. Was gab es da schon zu verlieren?
Das Gewitter war auch in der Nacht ausgeblieben, und so drang mit dem grellen Licht sofort ein Schwall stickiger Hitze in den Raum. Nur mühsam gewöhnte sich Melf Albertsen an die Helligkeit und blinzelte schließlich aus schmalen Schlitzen hinaus in die idyllische Natur, ließ seinen Blick über den Deich auf die glatte Wasserfläche der Nordsee schweifen, die er von hier oben gut sehen konnte, und glitt dann weiter über die Wiesen und Bäume zurück zu seinem eigenen kleinen Paradies. Der Hof lag ruhig und unschuldig da, als hätte es die ganze Aufregung und Bedrohung gestern Abend gar nicht gegeben. Wie wenig reichte doch, um in diesem Umfeld alles Trübe und Depressive abzuwerfen!
Albertsen reckte sich und gähnte ausgiebig. Dabei wanderten seine Augen über den Hof, auf sein Auto und zum Scheunentor hinüber. Das Gähnen blieb dem Arzt just in diesem Augenblick im Hals stecken und verwandelte sich in ein ersticktes Röcheln. Albertsen griff sich an die Gurgel, taumelte und wäre um ein Haar hingefallen, wenn er sich nicht am Fensterbrett hätte festhalten können. Das war doch nicht möglich! Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wer zum Teufel …?
Melf Albertsen zwang sich, genauer
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