Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
verwirklichen darf nicht dazu führen, dass einem alle anderen egal sind. Wir leben ja in gewisser Weise in einer Zeit der Selbstverwirklicher. Es gibt Menschen, die sich uneingeschränkt selbst verwirklichen, weil sie die Möglichkeiten dazu haben und es auch tun. Manche gehen dabei buchstäblich über Leichen.
Um mich selbst zu verwirklichen muss ich erst einmal das Selbst finden. Ich muss zuerst wissen: Was oder wen möchte ich verwirklichen? Ist es tatsächlich mein Selbst, das ich verwirkliche, oder will ich bloß mein Ego ausleben? Das Selbst zu verwirklichen ist viel schwieriger. Mit den üblichen Mitteln, die uns heutzutage meistens zur Verfügung stehen, funktioniert das oft nicht. Damit kannst du das Ich sehr leicht verwirklichen. Das Selbst jedoch – also das, was du eigentlich tief im Inneren bist, dieses Sein, das duin dir trägst und das in dir lebt –, das braucht im Grunde nur wenig zur Verwirklichung. Eben deswegen, weil es so wenig braucht, ist es so schwer zu finden. Was wenig braucht, muss nämlich nur selten seine Deckung verlassen.
Ich erinnere mich daran, schon als Kind und in der Schule etwas anders als die meisten meiner Kollegen funktioniert zu haben. Ich hatte aber das Glück, bald Menschen kennengelernt zu haben, die ebenfalls anders waren. Ihnen war ihr Anderssein völlig egal und ich durfte dadurch sehr viel von ihnen lernen. Mein Mentor, der Schauspieler Herwig Seeböck, war einer von ihnen und ein immens wichtiger Begleiter. Ich kann es mir heute glücklicherweise leisten, anders zu sein. Ich kann es mir leisten, Kugeln im Bart zu tragen, was manche Menschen aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsumstände nicht können. Sehr viel, was in letzter Zeit, seit ich meinen Selbstversuch „Gültige Stimme“ mache, über mich gesprochen wird, dreht sich um diese Kugeln in meinem Bart. So etwas scheint für die Leute bedeutend zu sein: „Der hat ja Kugeln im Bart! Das schaut doch blöd aus!“ Oder: „Kugeln, oh! Wer macht denn so etwas?“. Weshalb sind uns solche Äußerlichkeiten so wichtig?
„Meine Bartkugeln scheinen die Menschen am meisten zu irritieren und oft sogar zu stören. Weshalb legen wir solchen Wert auf Äußerlichkeiten?“
Ich glaube, das äußere Erscheinungsbild von Menschen ist uns so wichtig, weil wir einfach gelernt haben, für die anderen zu leben. Wir opfern unser Lebensglück den anderen, selbst denen, die wir gar nicht so schätzen. Wir spielen uns einander ständig etwas vor, möchten anerkannt, akzeptiert, lieb gehabt werden. Deswegen wollen wir nicht unangenehm auffallen. Dass aber, würden wir eines Tages einmal alle auffallen, kein einziger Mensch mehr auffällig wäre, übersehen wir dabei. Dass wir nach Anerkennung suchen, könnte man auch positiv bewerten. Ich persönlich sehe es aber als negativ. Brauche ich wirklich die Bestätigung durch jemand anderen, um zu wissen, wer oder was ich eigentlich bin?
Mit meinem Anderssein bin ich ohnehin ständig konfrontiert.
Mit meinem Beruf ist man schon einmal anders. Man steht unter Beobachtung, fällt auf, wenn man die Straße entlanggeht. Dabei geht es mir gar nicht darum, anders zu sein. Ich bin ebenso ein Kasperl wie alle anderen Menschen auch und versuche lediglich, andere Wege zu gehen. Das Problem ist, dass man gar nicht erst anders sein muss, um Irritation auszulösen. Es reicht, wenn man bestimmte Dinge anders tut.
Clemens G. Arvay: In der Onlineausgabe der Tageszeitung „Die Presse“ erschien am 12.05.2013 ein Interview mit dir. Unter der Schlagzeile „Aussteiger Roland Düringer sucht das gute Leben“ erzähltest du über deinen schrittweisen „Ausstieg aus den Systemen“. Davon angeregt verfasste eine Leserin einen Kommentar, wo sie über dich schrieb: „Der Mann hat es scheinbar nicht geschafft, erwachsen zu werden. Gut, er ist offensichtlich in der zweiten Pubertät […].“
Die Dinge anders zu machen zieht immer wieder Ablehnung, fast möchte ich sagen: Gehässigkeiten, an. Was sagst du zu dem Kommentar?
Roland Düringer: Diese Frau hat aus ihrer Sicht recht. Sie sieht die Dinge so und konnte gar nicht anders reagieren als mit diesem Kommentar. Ihr Gehirn funktioniert so und aus ihrer Perspektive ist das vollkommen richtig. Und stelle dir vor: Die meisten Menschen haben in ihrem Leben nur eine Pubertät. Ich habe – laut dieser Dame – eine zweite. Vielleicht kommt auch noch eine dritte auf mich zu, das ist doch herrlich, nicht wahr? Es bedeutet, dass man sich verändert, man
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