Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
irgendwo „für uns“ entwickelt. Und wir denken uns dann: „Das ist nun einmal so, von nun an müssen wir damit umgehen.“ Irgendwann haben wir angefangen, zu glauben, dass uns Geschwindigkeit tatsächlich Zeit erspart. Das ist wohl der einzige Grund, wir wollen Zeit gewinnen.
Mein lieber Freund Hermann Knoflacher 6 schreibt auch in seinen Büchern und sagt in seinen Vorträgen, dass sich die Geschwindigkeit in Österreich seit den Sechziger- und Siebzigerjahren in etwa vervierfacht hat und in Deutschland sogar versechsfacht. Gemeint sind Mobilität, Kommunikation und viele andere Bereiche. Das müsste rein rechnerisch bedeuten, dass die Menschen im Vergleich zu früher heute sechsmal so gemütlich sind, da sie ja nun mehr Zeit haben. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Offenbar versteht niemand, was Geschwindigkeit ist, obwohl wir es in der Schule gelernt haben: Geschwindigkeit ist der Weg dividiert durch die Zeit, also zum Beispiel „Kilometer pro Stunde“. Die Zeit ist in dieser Formel eine Konstante! Auch die Zeit, die ein Mensch auf diesem Planeten im Durchschnitt verbringt, bleibt in etwa konstant. Zum Glück weiß niemand von uns, wann diese Konstante für ihn persönlich zu Ende geht, aber die Zeit, diese paar Jahrzehnte, die wir zur Verfügung haben, bleibt unveränderlich. Wenn also die Zeit in dieser Formel die Konstante ist, und wir die Geschwindigkeit erhöhen, was passiert in dieser Rechnung? Die Wege werden länger, aber die Zeit bleibt gleich. Die Erhöhung der Geschwindigkeit führt nur dazu, dass wir längere Strecken zurücklegen müssen, um ein Ziel zu erreichen. Wir sparen dabei keine Zeit ein, es wird lediglich alles mühsamer.
Clemens G. Arvay: Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Im 19. Jahrhundert lebte in Massachusetts ein Philosoph und Schriftsteller, der indie Geschichte einging. Sein Name war Henry David Thoreau und er gilt als einer der einflussreichsten Philosophen der Vereinigten Staaten und als Mitbegründer der amerikanischen Romantik. Bereits zu seiner Zeit beklagte er die Beschleunigung und die beginnende Industrialisierung der Gesellschaft. Daher baute er sich im Jahr 1845 eine Hütte im Wald, an einem Gewässer – dem Waldensee. Auch für ihn war dieser Rückzug ein Experiment. Er lebte dort zwei Jahre lang weitgehend als Selbstversorger. In dieser Zeit schrieb er sein bekanntes Werk „Walden – vom Leben in der Natur“.
In seinem Buch schilderte er unter anderem einen Disput mit Dorfbewohnern aus seiner Nähe, welche die Zeitersparnis in hohen Tönen lobten, die durch die damaligen Eisenbahnen und die Steigerung der Reisegeschwindigkeit eintraten. Thoreau bestritt vehement, dass es einen wirklichen Gewinn zu verzeichnen gäbe. Er rechnete seinen Zeitgenossen vor, wie viel Zeit er sich ersparen konnte, indem er nicht mit der Eisenbahn reiste, sondern zu Fuß von A nach B ging. Er berechnete die Zeit, die er brauchen würde, um sich durch Lohnarbeit eine Fahrkarte kaufen zu können. Unterm Strich kam er – in der damaligen Zeit – zu dem Ergebnis, dass er zu Fuß wesentlich zeitsparender unterwegs war als die Dorfbewohner, die zunächst Zeit dafür aufwenden mussten, um sich das Geld für eine Bahnfahrkarte zu erarbeiten.
Roland Düringer: Noch heute wird durch die Erhöhung der Geschwindigkeit alles lediglich mühsamer. Früher, ich war noch ein kleiner Junge, fuhr ich mit meinen Großeltern von Wien in die Ortschaft Vorau in der Steiermark für zwei Monate auf Sommerfrische. Wir wurden mit einem alten VW-Bus durch ein ortsansässiges Autobusunternehmen abgeholt und das war eine richtige Reise für uns. Wir fuhren über das Wechselgebirge, machten in den Bergen erst einmal Zwischenhalt, weil der Motor heiß geworden war. DerVW-Bus war mit Menschen und Gepäck voll beladen und wir waren den halben Tag unterwegs – mit Mittagspause. Die Strecke beträgt etwa 130 Kilometer und wenn man heute von Wien nach Vorau fährt, ist man, schätze ich, in eineinhalb Stunden dort.
Damals hätte zum Beispiel ein Vertreter, der in Vorau Außendienst zu erledigen hatte, seine Geschäfte inklusive Hin- und Rückfahrt an einem Tag erledigt. Heute würde so ein Handelsreisender nicht denken: „Ich fahre nach Vorau und fahre schon zu Mittag wieder zurück nach Wien, weil ich bin ja schneller als in den Siebzigerjahren.“ Nein, der Vertreter fährt danach gleich weiter bis Klagenfurt, ganz in den Süden Österreichs. Ein Tag reicht heute dafür aus. Ein anderer Vertreter,
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