Leb wohl, Schlaraffenland: Die Kunst des Weglassens (German Edition)
verwandelt sich. Ich könnte jetzt aus diesem Kommentar den Schluss ziehen, dass die Dame sehr unter ihrer Pubertät litt, dass dies vielleicht keine schöne Zeit für sie war. Meine Pubertät war eigentlich lustig, da hat sich viel abgespielt, das war „leiwand“, wie man in Wien sagt, also es war so richtig lässig. Wir Jugendlichen machten viele Erfahrungen, probierten Dinge aus. Die Pubertät war für mich eine richtig spannende Zeit. Ich könnte aus dem Kommentar aber auch schließen, dass diese Dame eine wunderschöne Pubertät hatte und die Sehnsucht nach einer zweiten verspürt. Vielleicht ist sie neidisch darauf, dass da jemand eine zweite Pubertät erlebt und sie nur eine hatte. Aber noch einmal: Sie konnte nicht anders, als diesen Kommentar zu verfassen. Offenbar war es ihr wichtig.
Wir machen Beobachtungen, die mit unserem eigenen Weltbild, also mit unserer Art zu leben, nicht wirklich kompatibel sind, und dann ist es oft der einfachere Weg, die Menschen, die es anders machen als man selbst, zu verurteilen oder zu bewerten. Auch ich kenne das und erwische mich immer wieder beim Verurteilen, wenn jemand nicht so ist, wie ich es für richtig halte. Leider viel zu oft. Überall geschieht es, dass Menschen einander verurteilen. Veganer bezeichnen zum Beispiel diejenigen, die Fleisch essen, oft als „Fleischfresser“ oder „Leichenfresser“. Menschen, die nicht vegan leben, werden also abgewertet. Es ist etwa so, als würde ein Mensch von sich behaupten, er sei ein ganz besonders spiritueller Menschund deswegen fährt er mit dem Fahrrad – weil er so spirituell ist. Dann sieht er vielleicht jemanden auf der Straße in einem Auto sitzen – in einem Sportwagen zum Beispiel – und denkt: „Schau, der ist nicht so spirituell wie ich, denn er trägt keine Sandalen, so wie ich, und der fährt auch nicht mit dem Fahrrad und hat auch nicht so ein indisches Tuch umgehängt, wie ich es habe. Dieser Mensch ist überhaupt nicht spirituell.“ Das ist dann eine Vorverurteilung. Vielleicht ist der, der im Sportwagen sitzt, tausendmal spiritueller als ein anderer, der sich für besonders spirituell hält, nur, weil er sich entsprechend verkleidet.
Man muss sehr darauf achten, Menschen nicht zu verurteilen. Wenn mir das passiert, sage ich zu mir selbst: „Hey, hey! Halt! Der kann nicht anders, so dumm es mir auch erscheint, was er da tut, aber in seiner jetzigen Situation geht es für ihn einfach nicht anders.“ Ich zügle mich dann, um ihn nicht zu verurteilen, sondern ihn vielleicht sogar zu unterstützen und ihm Alternativen aufzuzeigen. Ob er diese annimmt oder nicht, ist letztendlich seine eigene Entscheidung. Ich kann lediglich über alternative Wege berichten und sagen: „Schau, mir geht es super damit.“
Clemens G. Arvay: Und doch scheint – das kann man zumindest aus dem Kommentar der Leserin herausfiltern – das „Erwachsensein“ irgendetwas mit „sich angepasst haben“ zu tun zu haben. Als erwachsen gilt in unserer Gesellschaft offenbar nur, wer sich möglichst restlos angepasst und vielleicht sogar einen Teil von sich dadurch abgedreht, abgestellt hat.
Roland Düringer: Ja, dieser Teil wird ihm abgestellt. Kein Kind kommt auf die Welt und sagt: „So, jetzt stelle ich viel von dem, was mir gut tut, ab und möchte mich anpassen.“ Das muss man einem Kind erst mühevoll beibringen und dafür haben wir ein eigenes System,wir nennen es das „Bildungssystem“. Es ist aber in Wirklichkeit ein Ausbildungssystem. Dort beginnt eigentlich schon das Abrichten von Systemidioten. Der Schrei nach mehr für unsere Bildung, zumeist nach mehr Geld, wird am Grundproblem nicht viel ändern. Wir sollten vielmehr die Lehrer dazu anhalten, nicht Fächer und Gegenstände, sondern endlich die Menschen zu unterrichten.
Zurück in die Siebziger?
Clemens G. Arvay: Du möchtest nun, im Rahmen des Experiments „Gültige Stimme“, einige Dinge in deinem Leben weglassen und mit dem auskommen, was dir als Kind in den 1970er-Jahren zur Verfügung stand. Quellenstraße 209 im zehnten Bezirk in Wien – dort bist du aufgewachsen. Wenn du an deine Kindheit und deine Jugend zurückdenkst, was stand dir damals zur Verfügung?
Roland Düringer: Diese Frage war für mich der Ausgangspunkt. Mein Projekt „Gültige Stimme“ ist ein Ergebnis von Fragen, die ich mir gestellt habe: „Was ist ein gutes Leben? Kann ich mein Leben so umgestalten, dass sich etwas ändert, obwohl ich derselbe Mensch bleibe, demselben Beruf
Weitere Kostenlose Bücher