Lebe deine eigene Melodie
freie Sprechen ist in die Briefform gerutscht, dabei bleibt die Nachdenklichkeit oft auf der Strecke.
Deswegen ist nicht jede E-Mail ein Vergnügen. »Je inter-netter, desto schlampiger« so die Devise. Mitunter ist es kaum noch erträglich, was da an Satzfragmenten rasch versandt wird. Aber einer der Vorteile des Älterwerdens ist es, man weiß besser, auf welche Mails man gut verzichten kann. Ich bin Musikerin, und es gibt falsche Töne, auf die ich allergisch reagiere. Dazu gehört der falsche Konjunktiv und die Verkleinerungsform bei großen Worten – wenn so wunderschöne Wörter wie »Seele«, »Herz« plötzlich »Seelchen«, »Herzchen« heißen. Über kleine geistige Ausrutscher und auch geringfügige Schreibschwächen kann man großzügig hinwegsehen, aber wenn es keinen unfallfreien Satz mehr gibt, oder wenn es nur noch Fragmente und »Punkt Punkt Punkt« hagelt, dann bin ich zuweilen versucht, eine Anregung der Buchhändlerin Altemöller zu verschicken: »Wer lesen kann ist schwer im Fohrteil. Wer schreim kann erscht rächt.«
Hat es mit dem Älterwerden zu tun, dass man diese schöne deutsche Sprache, die dabei flöten geht, am liebsten mit Zähnen und Krallen verteidigen will? Menschliches Glück hängt nämlich auch von solchen sprachlichen »Kleinigkeiten« ab. Es geht um schlampige Lieblosigkeit dem geschriebenen Wort gegenüber, die einfach wehtut, auch wenn manche Gedankenlosigkeiten ziemlich erheitern.
Dennoch bleibt: Dass es E-Mails gibt, ist tröstlich. Trotz vieler Enttäuschungen scheint es wohl so, dass wir diese täglichen kleinen Rationen von Versprechungen brauchen, die uns über manches hinwegtrösten. Außerdem passen sie zum selbstbestimmten Leben, weil man im Gegensatz zum Telefon selbst entscheiden kann, wann man seine Strompost lesen will. Und wie gesagt: Vielleicht ist es die neue Art und Weise, wie die Götter heute mit uns in Kontakt treten, wenn sonst niemand an uns denkt.
Leben ist zum Leben da
Wenn ich über das Älterwerden sinniere, sehe ich immer wieder eine Sinfonie vor mir, die wir über die Jahre komponieren, die nun im Alter eine besondere Melodie offenbart – unsere ureigene Melodie. Was in dieser Etappe jetzt ansteht, ist die Vollendung – der Schlusssatz der Sinfonie. Nun gilt es, diesem Werk seine Seele zu verleihen. Darunter verstehe ich das, was das Handwerkliche überschreitet, was uns zu Lebenskünstlern macht. Jener Antrieb, der uns durchströmt, der dieses gewisse Leuchten, diesen Glanz schafft, der die widerstrebenden Elemente der Komposition vereinigt und zu einem schwingenden Werk reifen lässt. Vom Philosophen Ernst Bloch stammt der Gedanke, der Mensch müsse »ein Leuchten« sein. In dieser Welt, die uns so oft dunkel und chaotisch erscheint, ist das ein schöner Gedanke. Wir würden anderen und uns selbst ein Stück Geborgenheit und Wärme schaffen, in der wir etwas spüren von dem, was das Leben freundlich und lebenswert macht. Oft gelingt es uns nicht. Sollten wir deswegen aufgeben, nur weil wir älter werden?
Ich finde: nein. Jede kleine Geste, jede Handreichung, jedes Aufatmen, jede Zärtlichkeit, sind Handlungen, die Sinn stiften. Und dieser Sinn selbst ist ein Leuchten. Vielleicht gibt es nicht das große Leuchten, vielleicht ist es nur die Summe von unzähligen kleinen Leuchtmomenten. Womöglich ist jeder Tag, an dem wir jemanden oder uns selbst zum Lächeln gebracht haben, ein Strahl, der zu diesem Leuchten beiträgt. Warum sollte es nicht der Gemüseeintopf sein oder das frisch gebackene Brot? Die gemütliche Plauderrunde vor dem Schlafengehen? Ein leiser Akkord? Die roten Wangen eines Jungen, der sich eine Baumhütte baut? Das Strahlen in den beiden Gesichtern, die der Zufall
wieder zusammengeführt hat? Die tröstende Hand, die über den Rücken streicht?
Vielleicht ist es schon viel, das wir nicht verdrängen, dass wir zwischen Himmel und Hölle leben und uns verwandeln. Geradlinige Lebenswege sind heute in dieser sich schnell verändernden, instabilen Welt kaum mehr durchzuhalten. Ordnung ist höchstens noch ein Bruchteil des Lebens, Bildung, Erziehung und Religion sind keine soliden Fundamente mehr, die in ihrer alten selbstverständlichen Gültigkeit bis zum Ende durchtragen. Unser Leben ist eher eine Bastelexistenz, an der wir kreativ mehr herumbasteln als nach Plan vorgehen.
Dass wir uns auch in dieser Lebensetappe wandeln, lässt sich nicht verhindern. Es geschieht einfach. Panta rei – alles fließt – eine Erkenntnis, die
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