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Lebe deine eigene Melodie

Lebe deine eigene Melodie

Titel: Lebe deine eigene Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Unser Gedächtnis ist glücklicherweise kein Buchhalter, der alles aufzeichnet, sondern eher wie ein »Regisseur am Schneidetisch« (Schneider 2008). Erinnerungen sind von uns selbst redigierte Geschichten, die auch umgeschrieben werden können. Wir können uns daran erinnern, was wir versäumt,
vertan, verpasst haben. Oder wir können uns erinnern, wie oft wir bewahrt, beschützt und begleitet wurden. Wir haben die Wahl, ob wir die Reise nach Spanien mit dem Freund und den Tequilas erinnern, die wir abends nach Sonnenuntergang tranken, oder eben, dass dieser Freund sich verabschiedet hat und die Leber keine Tequilas mehr verkraftet. Von unserer Einstellung hängt es ab, von welcher Seite und Perspektive wir unser Leben sehen und interpretieren.

Werte und Wertschätzung
    Was uns bewegt, hat mit den Werten zu tun, denen wir in der zweiten Hälfte des Lebens dienen wollen, nachdem wir schon berufliche Herausforderungen bewältigt oder Kinder ins Erwachsenenalter begleitet und geführt haben. Den meisten dämmert es wohl, dass es um mehr geht als Geld verdienen, Steuern zahlen, Zeit totschlagen, Fernsehen, gut essen, Rente empfangen und dann sterben. Unsere Psyche meldet sich, manchmal durch Symptome, Depressionen, Träume, Süchte oder Ruhelosigkeit, weil sie mehr von uns und durch uns will. Wir haben die Wahl: wachsen oder zurückgehen? Sicherheit oder Lebendigkeit? Rückzug oder Bezogenheit? Ein Geschäftsmann drückte es treffend aus: »Immer wollte ich siegen im Spiel des Lebens, irgendwann fühlte ich mich von diesem Spiel gekidnappt und realisierte, es gibt nichts zu gewinnen und zu beweisen, und was ich gewonnen hatte, ließ mich so merkwürdig leer.« Er beschreibt treffend, was uns allen irgendwann aufleuchtet, wenn wir spüren, dass unsere Würde nicht von unseren Erfolgen abhängt, sondern in der Bezogenheit zu anderen Boden gewinnt.
    Als Jugendliche fragen wir zunächst: Was brauche ich? Wie geht es mir im Vergleich zu anderen? Später realisieren wir, dass unser Leben nur blühen kann, wenn wir die Sorge um uns selbst mit der Sorge um die Anderen teilen. »Du bist mein Nachbar«, »mein Verwandter«, »mein Freund«, das sind Identifizierungen, die uns selbst auch zum Nachbarn, Verwandten und Freund machen. Du bist wie ich, in diesem Impuls liegt Mitmenschlichkeit. Was ich mir zueigen gemacht habe, gebe ich auch dem anderen, weil er für mich wertvoll ist. Wir wollen mutig in den Spiegel schauen und uns mit dem Menschlichen in den anderen, den Fremden
identifizieren, weil wir spüren, dass gegenseitige Wertschätzung Rückwirkung auf uns selbst hat. Wir behandeln andere wertschätzend, weil wir wissen, wie es sich anfühlt, genau so behandelt zu werden. Wir sind gegen Ausgrenzung, weil wir uns vorstellen können, was es heißt, nicht dazuzugehören. Inzwischen wissen wir auch, was das süße Geheimnis des Altruismus ist: Man fühlt sich selbst gut, wenn man andere glücklich macht.
    Seit den neunziger Jahren gibt es dafür einen einprägsamen Begriff aus der Psychotherapie: Emotionale Intelligenz. Dahinter steckt eine Art Glücksideologie: Emotionale Intelligenz fördere das Zusammenleben, die Kommunikation, die Fähigkeit mit Stress umzugehen, die Fähigkeit Konflikte zu vermeiden, Leistung zu erbringen und zufriedener, »vernetzter« zu altern. Sprich: Alles wird besser, solange man einander nur genug wertschätzt. Im Kern geht es darum, sich in den anderen einzufühlen, immer die positiven Seiten zu sehen und Kritik möglichst »schmackhaft« zu verabreichen. Wenn die Gefühle heißkochen, dann sagt man nicht: »Das war dumm«, oder »das war doof«, sondern allenfalls: »Ich würde gern verstehen, was du dir dabei gedacht hast«, »ich meine das jetzt überhaupt nicht wertend«, »versteh mich nicht falsch, es ist nicht persönlich gemeint«.
    Verordnete, funktionalisierende Wertschätzung führt aber leicht zu Harmoniesucht, Heuchelei und Unaufrichtigkeit und entwertet sich damit selbst. Außerdem schafft sie diffuse Erwartungen: Müssen wir jetzt einander ständig versichern, dass wir uns verstehen? Dass alles halb so schlimm ist? Dass wir mit Hinweis auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse nicht werten? Dass wir an den anderen glauben? Problematisch wird es, wenn wir uns auf ein allgemeingültiges Prinzip festlegen, weil wir dann zu sehr vereinfachen. Denn je komplexer das Wissen über einen selbst und damit
über andere wird, desto weniger gibt es Patentrezepte, wie man einander glücklich macht,

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