Lebe deine eigene Melodie
weil es nichts gibt, das immer und bei jedem funktioniert. Natürlich brauchen wir Nachsicht, weil wir komplizierte Wesen sind. Glücklicherweise schenkt uns das Älterwerden auch die nötige Gelassenheit. Aber deswegen müssen wir noch lange nicht zum »Allesversteher« werden. Ich schlage vor, das Dumme, Doofe lieber beim Namen zu nennen, ohne es plattzuwalzen, denn dafür kann man sich entschuldigen oder mildernde Umstände geltend machen, statt sich in endlos klärende Gespräche zu verwickeln, aus denen beide Gesprächspartner oft mehr verwirrt als erlöst hervorgehen. Ist es nicht auch ein Zeichen von Wertschätzung, wenn wir uns zugestehen, einander oft nicht wirklich zu verstehen?
Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen ist uns zwar in die Wiege gelegt – zumindest den meisten –, aber sie braucht ständige Erfahrung und Übung, um sich weiterzuentwickeln. Wie kommt es, dass manche im Alter so selbstbezogen werden, dass im Grunde nichts von Interesse für sie ist, als ganz allein sie selbst? Man erkennt sie, weil sie bei allem, was gesagt wird, sofort an sich selbst denken, es auf sich beziehen, an sich reißen und ihre »Heimspiele« spielen. Es scheint, als würde ihnen die Fassungskraft fehlen für das Gesprochene. Sie sind nicht zugänglich für Argumente, sobald ihr Interesse oder ihre Selbstüberschätzung ihnen entgegensteht. Hochempfindlich reagieren sie auf alles, was auch nur im entferntesten ihre Eitelkeit verletzen oder nachteilig auf ihr Selbst reflektieren könnte. Genauso leicht sind sie aber auch geschmeichelt.
Wenn Menschen sich auf sich selbst zurückziehen, geht auch die Einfühlung für andere zurück. Aus diesem Teufelskreis der Selbstbevorzugung kann man sich nur befreien, wenn man das Gefühl oder die Reaktionen der anderen
ernst nimmt, dass hier etwas schiefläuft. Auch wenn der Begriff »Mitmenschlichkeit« für sie eine Nummer zu groß ausfällt, so trifft er doch einen wesentlichen Punkt: Einfühlung ist Bestandteil einer Lebenspraxis und nicht unverderbliches Konservengut.
Stellen Sie sich vor, es geschähe eine Katastrophe, und Sie würden allein übrig bleiben. Es gäbe niemanden mehr, den Sie lieb haben könnten. Welch grausamer Gedanke! Gerade deswegen legen sich vereinsamte Menschen gern einen Hund oder eine Katze zu. So finden sie ein Gegenüber, mit dem sie sprechen, das sie streicheln, umsorgen und knuddeln können. Ob Haustier, Kind oder Freund, jemanden zu haben, dem man Beachtung schenken kann, ist eine der wertvollsten Möglichkeiten der Selbstsorge. Sich mit anderen auszutauschen, Konflikte auszutragen, sich um sie zu sorgen, ist nicht nur ein Ausweg aus der eigenen Begrenztheit, sondern das beste Mittel gegen sinnlose Einsamkeit. Vielleicht sollten wir uns freimachen vom Zwang des Gebenmüssens, des Habenwollens, des Richtigmachens, um einander in dieser Leistungsgesellschaft mehr Gesellschaft zu leisten und so frei sein, denen Zeit zu schenken, die wir lieben.
Verweile doch ...!
»Es kommt mir vor, als würde ich alle zehn Minuten frühstücken« – ein typischer Satz, der das Zeitgefühl Älterer widerspiegelt. Man empfindet, dass alles viel zu schnell geht. Kaum hat man sich mit den Sommerferien angefreundet, sind sie auch schon wieder vorbei. Jedes Jahr vergeht rascher als das vorhergehende. Die Zeit verfliegt im Alter immer schneller, und wir haben das Gefühl, dass unser Leben immer kürzere Stunden zählt. Dabei meint man ja nicht die Uhr als solche, sondern das Empfinden der Zeit. Von Kindern hört man solche Sätze nicht, sie haben noch ein anderes Zeitgefühl.
Das hat damit zu tun, dass unsere ersten Lebensjahre mit so vielen kleinen Triumphen gekrönt sind, deren Glanz sich über sämtliche späteren Erfolge legt, auch wenn sie ein wenig farbloser, glanzloser, zwiespältiger ausfallen als die ersten schwindelerregenden Errungenschaften: zum ersten Mal eine Treppe hochgeklettert, der erste Handstand, die erste Runde auf dem Fahrrad, die ersten Schwimmzüge, der erste Tanz in der Regenpfütze. Vielleicht erinnern wir uns noch, wie mächtig stolz wir waren, als wir unsere Schuhe zubinden konnten, endlich die Türklinke drücken, unseren Namen schreiben konnten, die Jacke zuknöpfen, das Radio und sogar den Fernseher einschalten konnten. Himmlische, heilige Momente, in denen die Zeit stehenblieb. Nie wieder waren wir so irrsinnig selig, so allmächtig über Zeit und Raum. Nie wieder erlebten wir so viel Neues, das verarbeitet werden musste. Nie
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