Lebe deine eigene Melodie
vorschnell eingreifen. Dieses vorzeitige elterliche Eingreifen schwächt die Eigeninitiative. Man traut sich auch später nicht, zu seinen Gefühlen zu stehen, weil dieses »Ich zeig es dir« immer noch nachklingt. Viele fühlen deswegen nur, was von ihnen erwartet wird und bleiben in der Haltung von Spielkindern stecken. Das Akzeptiertsein auf Kosten eigener Entscheidungen hat zur Folge, dass der eigene Wille nicht einmal mehr gefühlt wird. Statt zu fragen: Was will ich?, lautet die Frage: Mache ich es richtig? Was denken die anderen? Man sorgt sich, welches Bild man abgibt und fürchtet, man könne in den Augen der anderen nicht bestehen.
Wenn Menschen all das haben, was ihnen Zufriedenheit
geben könnte und dennoch das Gefühl haben: »Ich habe es nicht selbst gewählt«, dann haben sie wahrscheinlich schon früh erfahren, dass Anpassung wichtiger ist als ihre eigenen Träume, Wünsche und Sehnsüchte. Vielleicht wurden sie in Lebenswege hineingeschoben, und später machten sie sich diese Zwänge zueigen, ohne dass es ihnen recht bewusst wurde, dass sie verlernt hatten, auf ihre eigenen Gefühle zu hören.
Während wir alle uns irgendwie anpassen, gibt es Menschen, die von früh auf besonders gelernt haben, ihre Umwelt zu »lesen«, was sie tun oder nicht tun sollen, wer sie sind und wie sie zu bewerten sind. Auch wenn sie Erstaunliches leisten, haben sie nicht das Gefühl, ein Recht zu haben, das zu fühlen, was sie fühlen, zu wünschen, was sie wünschen und zu entscheiden, was ihnen entspricht. Ihr Lebensmodus ist vornehmlich eine Art Angstmanagement. Diese verinnerlichten Botschaften haben so viel Macht und sind so tief in die Seele eingegraben, dass sie ihre Anwesenheit oft nicht einmal bemerken, geschweige denn ihre Macht verstehen, mit der sie das eigene Leben steuern. Ein Beispiel dafür ist die pensionierte Lehrerin, die sich noch im fortgeschrittenen Alter vor jeder Familienfeier ängstigt. Entweder flieht sie oder sie empfängt die Einzelnen in wohl durchdachten Fraktionen, um zu vermeiden, dass es zu Spannungen kommt. Statt sich zu fragen, mit wem sie gern feiern und worüber sie sich freuen würde, schluckt sie ein paar Beruhigungspillen, um diese Pflichtübungen zu überstehen. Und wenn der Spaß vorbei ist, fühlt sie sich völlig ausgelutscht. Ein hoher Preis um des lieben Friedens willen, der wie so oft, wenn wir der Angst folgen, mehr Konflikte schafft!
Nur wenn wir auf unsere Verbiegungen, Verrenkungen und unsere Scheu vor Konflikten achten, bekommen wir Zugang zu diesen implantierten Vorstellungen, nach denen
wir unser Leben ausrichten. Es sind besonders unsere Ängste, die uns Hinweise geben, wie diese unsichtbaren Muster unsere Motive, Haltungen und Werte schaffen. Das hängt damit zusammen, dass die Angst stärker ist als der gesunde Menschenverstand. Sie lebt tief innen in unserem Reptiliengehirn, in unserem unergründlichen, dunklen Loch Ness. Durch Vernunft ist sie nicht zu beeindrucken und auch nicht durch Willenskraft.
Wie entkommt man diesem einengenden Zustand? Es braucht einen Gegenspieler zur Angst und der lautet »Mut«. Der Mut, der zu fragen wagt: Ist es wirklich so schlimm, wenn ich das tue, was ich mir wünsche? Muss ich mich wirklich danach richten, was ich meine, dass andere von mir erwarten? Statt der Angst auszuweichen, sollte man die Angst auf die Tagesordnung setzen und sich mit ihr auseinandersetzen, so die Empfehlung des Psychotherapeuten James Hollis. Hängt nicht unser Mut von einer gewissen Aufmüpfigkeit oder einer gesunden Portion Trotz ab? Trotz führt zum »Trotz allem«, und ist ein sehr ermutigendes Mantra. Denn Mut ist Macht. Mut bewahrt uns zwar nicht vor negativen Entscheidungen, aber Angst erst recht nicht. Sowohl Angst als auch Mut verstärken sich, wenn man sie übt. Wenn ich heute Angst vor Konflikten habe, werde ich nächstes Jahr Angst davor haben, meine Gefühle und Einstellungen überhaupt wahrzunehmen. Und umgekehrt: Wenn ich mich heute dafür entscheide, Klavier zu üben, werde ich später vielleicht beim Hauskonzert mitspielen, und irgendwann habe ich vielleicht Lust auf einen kleinen Soloauftritt. Mut kann man wie einen Muskel trainieren. Auch wenn es am Anfang schmerzt und mühsam ist, so dehnt und streckt er sich allmählich und wird, wenn wir dran bleiben, jedes Mal stärker.
Dennoch verdient die Angst unseren Respekt und vor allem: unsere Toleranz. Manchmal ist das Eingeständnis »Ich
weiß nicht, was ich tun soll« wichtiger als
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