Lebe deine eigene Melodie
für mich? Was oder wie will ich sein? Was entdecke ich auf dem eingeschlagenen Weg?
Wir planen heute nicht mehr in großen Zeiträumen, sondern suchen konkrete Wege, die wir tatsächlich gehen. Unser Gesicht, unsere Prägnanz ist ja zu dem geworden, weil wir uns immer mehr mit uns selbst ausfüllen, selbstbestimmt wählen und viele Möglichkeiten nicht nutzen. Genau das haben Hirnforscher herausgefunden: Unser Gehirn funktioniert durch Weglassen. »Use it or lose it«, lautet die Devise. Unzählige Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnzellen sterben im Laufe des Lebens ab, weil sie nicht benutzt werden, dafür hinterlassen diejenigen tiefe Spuren, die wir immer wieder gebrauchen. So sind wir die geworden, die wir jetzt sind.
Entscheidungen treiben uns an Orte, die zu neuen Wegen führen. Auch sogenannte »falsche Entscheidungen« bringen uns zu neuen Erfahrungen, zumindest erweitern sie unseren Horizont und lassen uns reifen. Dabei denke ich an die Frau, die sich mit 59 Jahren für ein Studium im Ausland entschied. »Es war mein größter Fehler«, sagt sie heute, »aber es hat mich geheilt von meiner Besessenheit, ständig beweisen zu müssen, dass ich bloß nicht zu diesen Spießern gehören will, die so ohne Glanz und Sex-Appeal auskommen.« Manchmal findet man das, was man sich erhofft hat, bisweilen aber auch etwas anderes, von dem man nicht einmal ahnte, dass man es gesucht hat. Wie diese Frau: »Ich verfasste für meine Cousine ein Zeitungsinserat in
der Rubrik ›Partnerschaft‹. Von den vielen Antworten fiel mir eine ins Auge, die ich ihr nicht weitergab. Ich reagierte selbst, obwohl ich das Thema ›Mann‹ längst abgehakt hatte. Ich traf ihn, und es war um mich geschehen. Nicht im Traum hätte ich geahnt, dass ich für einen Mann bereit war. Aus diesem Treffen sind fünfzehn Jahre untrennbares Liebesglück geworden.«
Wer meint, seine Entscheidungen auf der Basis eindeutigen Wissens zu treffen, wird von vornherein Alternativen verwerfen, die vielleicht später nicht mehr zu aktivieren sind. Deswegen plädiere ich für eine Entscheidungskunst des Entdeckens, der Fantasie. Wo sollen die Linien meines Lebens hinlaufen? Was fühle ich, wenn ich mich für einen Weg entscheide? Welche Bedeutung gibt meine Fantasie diesem Weg? Ich stelle mir den Weg vor, für den ich mich entschieden habe und prüfe meine Reaktion. Indem ich mich gefühlsmäßig einlasse, bekommt er Konturen, und es wird deutlicher, welchen Beitrag die Entscheidung zu meinem Weg und mir selbst leistet.
Keine Entscheidung
Warum eigentlich wird aus der Notwendigkeit zu entscheiden eine Tugend gemacht? Muss man wirklich immer gleich entscheiden? Nein, man muss überhaupt nicht. Höchstens bei den Endspielen im Fußball. Die Frage ist nämlich, ob einem wirklich so viel entgeht, wenn man sich das Recht herausnimmt, »unentschieden« zu sein. Wenn ein Klient mich um Entscheidungshilfe bittet, erlaube ich mir manchmal, mich zunächst den Vorteilen dessen zu widmen, was er ohnehin tut, statt mich gleich damit zu beschäftigen, was er tun möchte. Ich bitte ihn, sich möglichst detailliert
alle Vorteile vorzustellen, wenn er keine Entscheidung trifft. Für den Klienten ist das zunächst eine Entlastung, da er die Verantwortung für seine Entscheidung herausschieben kann. Außerdem trägt es dazu bei, dass die Vieldeutigkeit und Mehrschichtigkeit einer Entscheidung nicht gleich wegentschieden, sondern in der Schwebe gehalten wird. Wir dürfen Beobachter von uns selbst bleiben, einen Schritt zurücktreten und aus der Offenheit, was wir tun werden oder wollen, uns selbst wahrnehmen. Die Chance ist, dass wir mit unseren Gefühlen in einem Zwischenraum in Kontakt kommen, der zu Entdeckungen führen kann. In der tibetischen Tradition wird auf dieses »Nicht-Wissen«, auf die Lücken zwischen den Gedanken, oder auf Situationen, in denen man nicht weiter weiß, besonders viel Wert gelegt. Sich wirklich einzulassen auf diesen Raum, in dem man nicht weiß, ist zwar ein Sprung in den Abgrund, aber genau dort und nicht auf halbem Wege erwarten uns neue Aussichten, Sichtweisen und Erkenntnisse, die sich in der Stille vollziehen. Plötzlich wissen wir, wie es weitergeht.
Eine Klientin beschreibt es treffend: »Mir hat die Erkenntnis geholfen, dass Entscheidungen nicht ›gemacht‹ sondern ›entdeckt‹ werden. Diese Haltung bringt mich an den Ort meines inneren Wissens. Plötzlich wird alles ganz leicht, und ich bewege mich in die Richtung, die für mich
Weitere Kostenlose Bücher